Zeugen vor Gericht
(von Heinrich Spoerl)
Die Hauptperson im Prozeß ist der Zeuge. Eigentlich hat er nichts damit zu tun, ihn geht der ganze Prozeß nichts an. Und doch kann man ohne ihn nicht auskommen. Ohne den guten Zeugen. Der Richter ist immer gut; anderenfalls geht man in die Berufung. Den guten Anwalt kann man sich aussuchen. Aber den guten Zeugen muß man haben. Es ist ein Geschenk des Himmels.
Der Zeuge kommt meist im Plural vor und steht dann als schwatzende Gruppe in den Gerichtsgängen. Man hat ihn in verschiedenen Sorten und Qualitäten.
Der wichtige Zeuge
Wichtig, weil er sich so vorkommt. Er weiß, daß der Prozeß nur seinetwegen da ist. Er brennt darauf und kann es nicht abwarten. Er erzählt seine Aussage jedem, der sie wissen und nicht wissen will: den Kollegen im Büro, dem Kegelfreund am Biertisch, dem Gegenüber in der U-Bahn. Natürlich übertreibt er ein bißchen, macht was dazu, rundet ab. Seine Aussage wird bei jedem Erzählen mehr. – Und wenn er schließlich vor dem Richter steht, dann weiß er nicht mehr, was er weiß, sondern nur, was er 87 Mal erzählt hat.
Der ängstliche Zeuge
Er hat noch nie mit Gericht und so zu tun gehabt! – Gott sei Dank nicht – und empfindet seine Ladung als Schicksalsschlag. Er bereitet sich fleißig auf die entsetzliche Prüfung vor. Seine Kinder und Verwandten helfen ihm, seine Aussage wird von der ältesten Tochter unter möglichster Vermeidung von Schreib- und Sprachfehlern zu Papier gebracht.
Die Nacht vor dem Termin schläft er nicht, beim Aufruf schwenkt er seinen geschriebenen Aufsatz wie eine Friedensfahne – und versteht die Welt nicht mehr, wenn man ihn auffordert, auswendig zu erzählen. Das hat er schon in der Schule nicht gekonnt, und hier ist kein Hintermann, der ihm vorsagt, keine Bank, die seinen Spickzettel deckt. Und dann fangen sie auch noch an zu fragen, der Herr Vorsitzende, der Herr Staatsanwalt, der Herr Verteidiger, der Herr Angeklagte – sechs gegen einen. Er wundert sich, daß er mit dem Leben davonkommt.
Der Kronzeuge
In der englischen Justiz ist es der Mittäter, der gegen seinen Komplizen aussagt und dafür straffrei bleibt. Bei uns ist es der Universalzeuge, der von seiner Partei immer und für alles benannt wird.
Vielfach die Stenotypistin oder Privatsekretärin, mit Betonung auf „Privat“.
Wenn sie noch nicht lange im Fach ist, wundert sie sich über die Ladung und geht zum Chef. Dort bekommt sie das Gedächtnis aufgefrischt: „Aber Sie waren doch im Zimmer, Sie müssen das doch mit angehört haben! Nicht darauf geachtet? Angestellte, die nicht acht geben, kann ich nicht brauchen. Sie erinnern sich nicht? Angestellt mit Gedächtnisschwäche kann ich erst recht nicht brauchen. Liebes Fräulein, passen Sie mal auf“.
Fräulein Meier ist ein liebes Fräulein und eine brauchbare Angestellte. Sie paßt auf wie ein Schießhund, und weiß nach zehn Minuten ganz genau, was sie damals gehört hat.
Der Polizeibeamte
Man erkennt ihn sofort, auch in Zivil. Er kann die Eidesformel auswendig und beginnt seine Aussage: „An dem fraglichen Tage“. – Daß er keinen Widerspruch verträgt und böse wird, wenn man ihm Querfragen stellt, unterscheidet ihn allerdings nicht von anderen Zeugen.
Die fesche Zeugin
Sie will nicht aussagen, sondern aussehen.
Was trägt man zur Zeugenvernehmung? Sie blättert Journale, konsultiert ihren Anwalt, fragt den Schneider. Capeform in Nutria, mit Moirebändern geschlossen und passendem Barret als Ergänzung zum grünen Wollkleid, kurzer Schleier, weißer Glacehandschuh, wird beim Schwören ausgezogen, dezentes Make-up, geheimnisvolles Mona-Lisa-Lächeln.
So rauscht man vor, trägt eine leise Duftwolke an den Richtertisch, alles reckt die Hälse: „Wer ist diese Frau“?
„Ach, auf Frau X könnten wir wohl verzichten.“
Da steht Sie nun in ihrem neuen Vernehmungskostüm. Man verzichtet? Was heißt das?
Der prominente Künstler
Mann von Welt, kokett, graue Schläfen, Federschnitt. Er ist Maler von Beruf, Professor.
Eheprozeß. Ob er vielleicht mit der Beklagten?
„Ich kann mich der Dame nicht entsinnen. Wenn es aber richtig ist, daß ich sie einmal gemalt habe, dann – hm – möchte ich auf die Frage lieber eine Aussage verweigern“.
Die geistig Minderbemittelte
Mit der Aussage geht es zur Not. Aber schwören ist schwer. Das hat sie noch nicht gehabt.
Richter: Sprechen Sie nach: - Ich schwöre -
Zeugin: (glotzt)
Richter: Sie sollen nachsprechen: - Ich schwöre -
Zeugin: Ich schwöre -
Richter: Daß ich nach bestem Wissen -
Zeugin: Daß im am besten wissen -
Richter: Nein! -Daß-ich-nach-bestem-Wissen -
Zeugin: Daß-Sie-nach-bestem-Wissen -
Richter: Ach was, nicht ich, sondern Sie - ich meine umgekehrt, ich - oder vielmehr - (wird selbst konfus). Also sprechen Sie: Nach - bestem - Wissen
Zeugin: Nach bestem Wissen -
Richter: Die reine Wahrheit gesagt -
Zeugin: Jawohl.
Richter: Sie sollen nachsprechen: Die - reine - Wahrheit -
Zeugin: (dem Weinen nahe): Die - reine - Wahrheit - gesagt
Richter: Und nichts verschwiegen habe.
Zeugin: Nein, hab‘ ich auch nicht.
Richter: (außer Fassung): Sie sollen stumpfsinnig nachsprechen: Und - nichts - verschwiegen – habe.
Zeugin: (wie ein Schulkind plappernd): Und – nichts – verschwiegen - habe.
Richter: (läßt sich erschöpft in den Stuhl fallen): Gott sei Dank!
Zeugin: (immer noch nachsprechend und mit erhobener Schwur-Hand): Gott - sei - Dank!
Der ritterliche Zeuge
Ob er mit der Beklagten in unerlaubten Beziehungen gestanden habe? Er umfängt die schöne Frau mit einem flammenden Blick und schlägt die Hacken zusammen: „Bedauere – nein.“
Der ideale Zeuge
Er ist weder wichtig noch ängstlich, weder falsch noch minderbemittelt, weder galant noch künstlerisch. Er ist nur Wahrheit. Er hat im stillem Kämmerlein sein Gedächtnis durchgeforscht. Er weiß genau, was er weiß und was er nicht weiß. Er ist ohne Falsch und Fehl. Auf seine Aussage kann man Häuser, Welten bauen.
Er hat nur einen Fehler: Ihn gibt es nicht!