Wüstenblume
Mädchenbeschneidung: Ritual oder Verstümmelung?
Weltweit sind 130 Millionen Frauen beschnitten. Und alle 15 Sekunden erleidet ein kleines Mädchen das gleiche Schicksal. Die Beschneidung ist ein grausames Ritual mit lebenslangen Folgen.
Eine ehemalige Beschneiderin (Ourèye Sall aus Somalia) erzählt aus ihrer früheren Berufspraxis:
Ich habe es getan, so wie meine Mutter und Großmutter auch. Sie haben mir das nötige Wissen beigebracht.
18 Jahre lang war sie Beschneiderin. Dann hat sie die Seite gewechselt. Heute engagiert sie sich im Kampf gegen die Mädchenbeschneidung.
Wissen Sie, unbeschnittene Frauen haben es schwer. Sie werden behandelt wie Aussätzige. Niemand möchte einer unbeschnittenen Frau nahe kommen, denn sie gilt als unrein, als schmutzig. Kein richtiger Mann würde eine solche Frau heiraten, und niemand würde das von ihr zubereitete Essen anrühren oder sich gar beim Essen neben sie setzen.
Als Beschneiderin hat sie gut verdient, 10 Dollar sind viel Geld in Somalia.
Ich habe pro Mädchen zehn Dollar bekommen, ein Pfund Seife und ein Paket Rasierklingen. Ich galt als angesehene Frau, ich wurde respektiert.
Ourèye Sall hängte ihren Beruf an den Nagel, als sie mit Vertretern der Unicef in Kontakt kam. Sie wurde umgeschult und lernte alles über Gesundheitsfürsorge. In einem denkwürdigen Akt vergrub sie zusammen mit anderen Beschneiderinnen ihre Arbeitsutensilien – Rasierklingen und Eau de Cologne, denn Alkohol besaß sie nicht.
Nach wie vor werden in Senegal 20 Prozent der Mädchen beschnitten. In Somalia sind es 98 Prozent. Mädchenbeschneidung wird in 27 Ländern Afrikas praktiziert. Doch auch in Europa und in den USA sind kleine Mädchen davon betroffen. 1999 kam es in Frankreich zu einem aufsehenerregenden Prozeß. Eltern, die in einem Vorort von Paris ihr Mädchen beschneiden liessen, wurden zu einer Haftstrafe verurteilt.
Alle 15 Sekunden wird ein Mädchen beschnitten
Jedes Jahr erleiden 2 Millionen Mädchen im Alter von wenigen Tagen bis zur Pubertät diese Grausamkeit. Mehr als 130 Millionen Frauen sind weltweit betroffen.
Die Folgen sind dramatisch. Denn ohne jede Betäubung und unter unhygienischen Bedingungen ausgeführt, zieht die Beschneidung Infektionen nach sich, die für viele Mädchen tödlich enden. Selbst wenn die Mädchen ihre Beschneidung überleben, sind sie gezeichnet fürs Leben.
Schmerzen beim Harnlassen und bei der Menstruation, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und wiederkehrende Infektionen sind übliche Komplikationen. Besonders gefährlich jedoch sind die Geburten. Man schätzt, daß die Hälfte aller geburtsbedingten Todesfälle darauf zurückzuführen sind, daß die Gebärende beschnitten ist.
Beschneidung und Beschneidung sind nicht dasselbe. Das Wort "Beschneidung" klingt harmlos. Es erinnert an den relativ kleinen operativen Eingriff, der bei Jungen im Kleinkindalter oder in der Pubertät vorgenommen wird.
Die Mädchenbeschneidung hat damit nicht das Geringste zu tun. Sie bedeutet in 80 % der Fälle die vollständige Entfernung der Klitoris und der kleinen Schamlippen. Beides sind hochempfindliche, stark durchblutete Organe der Frau. Es gibt wohl keine empfindlichere Stelle am weiblichen Körper. Dieser Eingriff hat nichts gemein mit der Beschneidung der Knaben. Es handelt sich vielmehr um eine schlimme Verstümmelung der weiblichen Genitalien.
Das anatomische Äquivalent dieses Eingriffs bei einem Mann wäre die Amputation des Gliedes, und dies ohne jede Betäubung mit einer schmutzigen Glasscherbe.
Doch damit nicht genug. In bestimmten Gegenden werden zusätzlich die großen Schamlippen mit Darmsaiten oder Fäden bis auf eine winzige Öffnung, durch die Harn und Menstruationsblut abfliessen sollen, zugenäht (sog. pharaonische Beschneidung). Bei jeder Geburt und vor dem Geschlechtsverkehr, muß die Frau erneut aufgeschnitten werden.
Gründe für die Beschneidung
Die Gründe liegen nicht in der Religion. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, daß die Beschneidung der Mädchen in der islamischen Religion verankert sei. Sie ist vom Islam nicht vorgeschrieben und wurde schon in vorislamischer und in vorchristlicher Zeit praktiziert, worauf auch die Bezeichnung "pharaonische Beschneidung" hindeutet.
Sie ist also eine im Bewußtsein der Menschen tief verwurzelte Tradition, die vor allem in den afrikanischen Ländern von der islamischen Religion übernommen wurde, aber auch in christlichen Familien praktiziert wird.
Die Beschneidung beruht auf in der gesellschaftlichen Stellung der Frau, auf jahrtausendealten Ritualen und auf gesellschaftlichen Tabus. Durch die Beschneidung wird ein Mädchen zur Frau. Um den Preis unglaublicher Schmerzen, ein Gefühl von Verrat und der Demütigung.
Beschneidung ist Folter
Weibliche Beschneidung bedeutet Folter. Denn die Geschlechtsorgane der Mädchen und Frauen werden auf schlimmste Art verstümmelt. Und sie bleiben es ein Leben lang, denn der Eingriff ist natürlich nicht rückgängig zu machen.
Man unterscheidet 3 Formen der weiblichen Beschneidung:
- Bei der sunnitischen Beschneidung wird „nur“ die Klitorisspitze oder die Vorhaut der Klitoris abgetrennt. Diese Form ist selten.
- Am weitesten verbreitet ist die Klitorisdektomie, bei der die Klitoris und die kleinen Schamlippen teilweise oder vollständig amputiert werden.
- Die schwerwiegendste Form der Beschneidung ist die pharaonische Beschneidung. Die Klitoris und die kleinen Schamlippen werden vollständig und die großen Schamlippen teilweise abgetrennt. Die Wunde wird zugenäht oder mit Dornen zusammengeheftet. Es wird nur ein circa streichholzkopfgroßes Loch zum Abfließen des Urins und des Monatsblutes gelassen.
Die Operationen werden nur in seltenen Ausnahmefällen in medizinischen Einrichtungen von geschultem Personal durchgeführt. Meist finden sie in einfachen Hütten unter katastrophalen hygienischen Bedingungen statt. Die Operateure sind traditionelle Heilerinnen und Barbiere. Der Eingriff, der oft eine halbe Stunde dauert, wird ohne Narkose durchgeführt. Mehrere Frauen halten das Mädchen während der Operation mit Gewalt fest.
Die Instrumente reichen von Rasierklingen über Messer, stumpfe Scheren, Glasscherben bis zu Deckeln von Konservendosen oder scharfen Steinen.
Regionale Verbreitung
Die Zahl von Frauen, die an ihren Genitalien verstümmelt wurden, ist nur ungefähr ermittelbar. Geschätzt werden etwa 130 Millionen betroffener Frauen und Mädchen. Jährlich kommen etwa weitere zwei Millionen hinzu.
Weibliche Genitalverstümmelung wird in 28 Ländern Afrikas, sowie in einigen arabischen und asiatischen Ländern (zum Beispiel Jemen, bei einigen Ethnien in Oman, Indonesien und Malaysia) praktiziert. Im Rahmen der Migration wird FGM heute auch in vielen Ländern Europas und Nordamerikas praktiziert.
In Deutschland leben nach Aussagen von Terre des Femmes etwa 20.000 betroffene Migrantinnen.
Lebenslange Folgen
Viele Mädchen sterben bei der Operation durch Verbluten, Wundstarrkrampf oder Blutvergiftungen. Chronische Entzündungen, Rückenschmerzen, Blasen- und Nierensteine, seelische und sexuelle Probleme gehören zu den üblichen Folgen des Eingriffs.
In der Hochzeitsnacht müssen infibulierte Frauen oft mit dem Messer geöffnet werden! Auch beim Gebären muß die Frau aufgeschnitten werden, weil das Gewebe sich aufgrund der Vernarbungen nicht mehr dehnt. Mutter und Kind kommen dabei oft zu Schaden. Die Frauen werden nach der Geburt wieder zugenäht und für die "zweite Hochzeitsnacht“, also den weiteren Intimverkehr wieder geöffnet.
In der Praxis werden die Frauen häufig vom eigenen Ehemann wieder aufgeschnitten. Dieser hat meist ungenügende anatomische Kenntnisse der weiblichen Genitalien und richtet zusätzlichen Schaden an.
Der Geschlechtsverkehr muß in der ersten Zeit in der offenen Wunde vollzogen werden, damit sie sich nicht schließt.
Vor der Geburt muß die Frau oft wieder aufgeschnitten werden, da das Narbengewebe zu unelastisch ist, das Baby oft nicht durchkommt und stirbt.
"Journalistische Pflicht"
Zarah Yacoub aus dem Tschad drehte einen aufsehenerregenden Fernsehfilm über die Beschneidung von Mädchen in ihrem Land. Nach der Ausstrahlung des Films wurde sie mit Mord bedroht. Ende Oktober war die Journalistin in Deutschland.
Ein Dorf im Tschad: Am Boden, den Oberkörper im Schoß einer alten Frau geborgen, den Unterleib nackt und die Beine gespreizt, liegt ein etwa zehnjähriges Mädchen mit zusammengepreßten Lippen und angstvoll aufgerissenen Augen. Dann geht die Kamera nah heran und filmt, wie dem Mädchen ohne Betäubung mit einem Rasiermesser die Klitoris herausgeschnitten wird.
Das ist eine Sequenz aus dem Fernsehfilm "Dilemma der Weiblichkeit" ("Dilemme au Feminin"), der um so bemerkenswerter ist, als er von der 32 jährigen afrikanischen Journalistin Zarah Yacoub Ende 1994 in ihrem Heimatland Tschad gedreht und im dortigen Fernsehen im September 1995 auch ausgestrahlt wurde. 13 Tage später wurde in allen 15 Moscheen der Hauptstadt N'Djamena über die Autorin die "Fatwa" verhängt - ein Aufruf zum Mord. - Nur auf starken internationalen Druck hin wurde der Aufruf inzwischen stillschwiegend (nicht offiziell) wieder aufgehoben.
„ Die Wüstenblume“
In erschütternder Weise wird dies von Waris Dirie (der die Flucht aus Afrika gelang und in England zu einem Top-Model wurde) in ihrem Buch "Die Wüstenblume" geschildert. Sie berichtet über selbst erlittenes Leid, denn sie wuchs als Nomadenkind in der Wüste Somalias auf und erlebte hier als 5-Jährige die grausame pharaonische Beschneidung am eigenen Körper.
In ihrem Buch schreibt sie dazu:
Über viertausend Jahre lang hat man in afrikanischen Kulturen Frauen verstümmelt. Viele sind der Ansicht, der Koran würde das vorschreiben, da dieser Brauch hauptsächlich in moslemischen Ländern verbreitet ist. Doch weder im Koran noch in der Bibel steht, daß die Beschneidung der Frau ein gottgefälliges Werk sei. Vielmehr wird diese Praktik schlicht von Männern unterstützt und gefordert, von unwissenden, egoistischen Männern, die sich damit ihr alleiniges Anrecht auf die sexuellen Dienste ihrer Frauen sichern wollen.
Deshalb verlangen sie, daß ihre Frauen beschnitten sind. Die Mütter fügen sich und lassen die eigenen Töchter beschneiden, aus Angst, diese könnten sonst keinen Ehemann finden. Denn eine Frau, die nicht beschnitten wurde, gilt als schmutzig und mannstoll und kann daher nicht verheiratet werden.[...]
Die Beschneidung wird normalerweise unter primitiven Bedingungen von einer Hebamme oder einer Nachbarin durchgeführt. Es wird kein Betäubungsmittel verwandt. Die Frauen benutzen zum Schneiden alle möglichen Geräte, von Rasierklingen, Messern, Scheren, Glasscherben bis zu scharfen Steinen; in manchen Regionen sogar die Zähne.[...]
Die Schwere der Verstümmelung ist je nach geographischer Lage und kultureller Tradition unterschiedlich. Der geringste Schaden entsteht, wenn nur die Spitze der Klitoris entfernt wird, was zur Folge hat, daß das Mädchen niemals Lust beim Sex empfinden wird.
Das andere Extrem ist die ,pharaonische Beschneidung', die an achtzig Prozent der Frauen in Somalia durchgeführt wird und die auch ich erlitt
Über diese als Kind erlebte Tortur hat Waris Dirie das Schweigen gebrochen:
Dann spürte ich, wie mein Fleisch, meine Geschlechtsteile, fortgeschnitten wurden. Ich hörte den Klang der stumpfen Klinge, die durch meine Haut fuhr. Wenn ich heute daran zurückdenke, erscheint es mir schlechtweg unfaßbar, daß mir dies widerfahren ist, und ich habe das Gefühl, als würde ich von jemand anderem sprechen. Es gibt keine Worte, die den Schmerz beschreiben könnten.
Es ist, als ob dir jemand ein Stück Fleisch aus dem Oberschenkel reißt oder dir den Arm abschneidet, nur daß es sich dabei um die empfindsamsten Teile deines Körpers handelt...
Ich verlor das Bewußtsein. Als ich aufwachte, dachte ich, ich hätte es hinter mir, doch da begann erst der schlimmste Teil. Meine Augenbinde war weggerutscht, und ich sah, daß die Mörderin eine Sammlung Dornen des Akazienbaums neben sich aufgehäuft hatte.
Mit den Dornen stach sie mir Löcher in die Haut, durch die sie einen festen, weißen Zwirn schob, um mich zuzunähen. Meine Beine waren mittlerweile völlig taub, doch der Schmerz in meiner Scheide war so furchtbar, daß ich nur noch sterben wollte. Plötzlich fühlte ich mich emporgehoben, schwebte über dem Boden, ließ meine Pein zurück und sah von oben auf die Szene unter mir, sah, wie diese Frau meinen Körper wieder zusammenflickte, während meine arme Mutter mich umschlungen hielt. In jenem Aufgenblick verspürte ich vollkommenen Frieden, hatte weder Sorgen noch Angst. An diesem Punkt bricht meine Erinnerung ab. Irgendwann öffnete ich die Augen, und die Frau war fort.
Man hatte mich zur Seite getragen; ich lag auf dem Boden neben dem Felsen. Meine Beine waren von den Fersen bis zur Hüfte mit Stoffstreifen zusammengebunden, so daß ich mich nicht mehr bewegen konnte. Suchend blickte ich mich nach meiner Mutter um, aber sie war gleichfalls fort. So lag ich da und fragte mich, was als nächstes geschehen würde. Als ich den Kopf wandte, sah ich eine Blutlache auf dem Felsen, als ob dort ein Tier geschlachtet worden wäre. Und außerdem lagen dort auf dem Felsen Stücke meines Fleisches - meine Geschlechtsteile, und trockneten in der Sonne.
Bald stand die Sonne unter dem Zenit. Es gab keinen Schatten, und die sengend heißen Strahlen brannten auf mein Gesicht hernieder, bis meine Mutter mit meiner Schwester zurückkehrte. Sie zogen mich in den Schatten eines Busches, wo ich wartete, daß sie meine Hütte fertigstellten. Es gehörte zur Tradition, daß unter einem Baum eine kleine Hütte errichtet wurde, in der ich in den nächsten Wochen allein ruhen und mich erholen sollte...
Um auch Unwissenden die Augen für das zu öffnen, was sich hinter dem Wort Beschneidung an Elend verbirgt, schreibt Waris Dirie in aller Offenheit über die erlebte Tortur:
Ich dachte die Qual sei überstanden, bis ich pinkeln mußte. Nun verstand ich den Rat meiner Mutter, nicht zuviel Wasser oder Milch zu trinken.
Nachdem ich es stundenlang hinausgeschoben hatte, konnte ich es kaum noch aushalten, doch da mir die Beine zusammengebunden waren, mußte ich bleiben, wo ich war. Mama hatte mich gewarnt, keinen Schritt zu tun, damit ich nicht wieder aufriß. Wenn sich die Wunde öffnete, mußte sie erneut genäht werden, und das war so ungefähr das letzte, was ich wollte, Ich muß pinkeln', rief ich meiner Schwester zu. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Sie kam herbei, rollte mich auf die Seite und grub mit der Hand eine kleine Mulde in den Sand. ,Gut fang an.'
Der erste Tropfen, der herauskam, brannte, als würde mir die Haut von Säure fortgefressen. Als die Zigeunerin mich zunähte, hatte sie für den Urin und das Monatsblut nur ein winziges Loch offengelassen, ein Loch in der Größe eines Streichholzkopfes. Mit dieser ausgefeilten Methode sollte sichergestellt werden, daß ich vor meiner Hochzeit keinen Sex hatte, und mein Ehemann konnte nachprüfen, daß er eine Jungfrau bekam.
...Obwohl ich nach meiner Beschneidung große Schmerzen litt, zählte ich noch zu den Glücklicheren. Es hätte weitaus schlimmer kommen können , wie unzählige andere Mädchen erfahren mußten. Sie starben am Schock, an Infektion, an Wundstarrkrampf, oder sie waren verblutet. Wenn man betrachtet, unter welchen Bedingungen der Eingriff durchgeführt wird, wundert dies nicht weiter. Es wundert vielmehr, daß einige von uns ihn überlebten.
Waris Dirie überlebte nicht nur. Mit einem ungewöhnlichen Willen flieht sie aus der somalischen Wüste und gelangt nach England. Sie wird sogar Top -Model und und setzt ihre Bekanntheit schließlich als UNO-Sonderbotschafterin im Kampf gegen die Beschneidungspraxis ein.