Schnitt in die Seele

Weibliche Genitalverstümmelung - eine Menschenrechtsfrage

von Eva Schreuer

Vor ca. 15 Jahren

- ich war gerade zu meiner ersten Tochter schwanger - hörte ich das erste Mal davon. Maria (freipraktizierende Hebamme wie ich) erzählte mir von ihrer Zeit als Entwicklungshelferin und Hebamme in Kenia und Tansania. „Die meisten schwierigen Geburten gab´s bei den beschnittenen Massai-Frauen" Wie bitte? Ein Beschneidungsritual war mir bis dahin nur bei Männern ein Begriff.

10 Jahre später

… stiess ich ganz zufällig beim Zappen im Fernseher auf eine Dokumentation über weibliche Genitalverstümmelung. Eine Gruppe von Frauen afrikanischer Herkunft, die heute in Kanada leben, hatte den Mut gefasst und ist mit dem Thema an die Öffentlichkeit gegangen. Und dann wurde ich Augenzeugin der brutalen Vergewaltigung einer 5-Jährigen. Gehalten von mehreren Frauen drückte man ihre Beine auseinander, dazwischen saß am Erdboden eine alte Frau, die dem Kind (ohne Betäubung!) mit einer rostigen Rasierklinge Klitoris und Schamlippen entfernte. Der Anblick des verzweifelt schreienden und sich wehrenden Mädchens trieb mir die Tränen in die Augen - schliesslich saß ich hemmungslos schluchzend vor dem ausgeschalteten Fernseher…

Vor 3 Wochen

… hab ich in zwei Tagen ein Buch verschlungen. Die Autorin Waris Dirie, heute Top-Model, aufgewachsen als Tochter eines Nomaden in der endlosen Steppe Somalias, erzählt in „Wüstenblume" ihre Lebensgeschichte - und berichtet ganz ehrlich, offen und unverblümt von ihrer Beschneidung als 5-jährige:

Irgendwann war es an der Zeit, daß meine Schwester Aman beschnitten wurde. Sie war schon eine Jugendliche und mein Vater machte sich allmählich Sorgen, denn sie hatte das heiratsfähige Alter erreicht - doch ehe nicht alles bei ihr „geregelt" war, konnte sie keine Ehe eingehen. Als ich hörte, dass die alte Zigeunerin kommen sollte, um Aman zu beschneiden, bat ich, mich gleich mit an die Reihe zu nehmen. Aber meine Mutter meinte, ich müsse noch ein bißchen warten [...]

– Waris Dirie

Waris wusste nicht, daß eine ihrer älteren Schwestern bereits an den Folgen dieses grausamen Rituals gestorben war. Sie verstand nicht, daß Aman sich davor fürchtete - erst als sie mit ansah, wie Aman beim ersten Schnitt die Zigeunerin mit dem Fuss wegstieß, blutend davonlief, von den Frauen eingeholt, gehalten und im Sand weitertraktiert wurde, bekam sie doch ein ungutes Gefühl. Aber mit fünf Jahren begann sie wieder ihre Mutter darum zu bitten, endlich vom Dasein des „unreinen" Mädchens erlöst zu werden und Frau werden zu dürfen.

[...] Ganz früh am Morgen, es war noch dunkel, stand plötzlich Mama über mir, gab mir ein Zeichen, leise zu sein und nahm meine Hand. Ich nahm meine kleine Decke und stolperte verschlafen hinter ihr her.… Wir gingen in den Busch und warteten, die Nacht wurde schon ein bisschen heller, und plötzlich hörte ich das Klatschen von Sandalen… „Setz dich dorthin", sagte die Zigeunerin und wies auf einen flachen Felsen. Es gab kein Gespräch, kein „Guten Tag", kein „Wie geht es euch?", kein „Was heute geschieht, wird dir sehr weh tun, du musst also tapfer sein." Nichts dergleichen. Die Mörderin (wie ich sie noch heute nenne) kam gleich zur Sache. Mama setzte sich hinter mich, zog meinen Kopf an ihre Brust und umschlang meinen Körper mit den Beinen. Ich wand die Arme um ihre Oberschenkel. Schliesslich steckte sie mir eine Wurzel zwischen die Zähne. „Du musst draufbeißen." Ich war starr vor Angst. „Du weisst, dass ich dich nicht halten kann", flüsterte Mama. „Ich bin hier ganz allein mit dir. Also sei brav, meine Kleine. Sei tapfer, um meinetwillen, dann hast du es bald hinter dir." [...]

Die Zigeunerin zog aus einem kleinen Stoffbeutel eine zerbrochene Rasierklinge, die sie von allen Seiten musterte. Mir fiel auf, dass auf der schartigen Schneide der Klinge Blut klebte. Die Frau spuckte drauf und wischte sie an ihrem Kleid ab. Noch während sie das tat, verdunkelte sich meine Welt. Meine Mutter hatte mir ein Tuch vor die Augen gebunden. Dann spürte ich, wie mein Fleisch, meine Geschlechtsteile fortgeschnitten wurden. Ich hörte den Klang der stumpfen Klinge, die durch meine Haut fuhr. Wenn ich heute daran zurückdenke, erscheint es mir unfassbar, dass mir dies widerfahren ist, und ich habe das Gefühl, als würde ich von jemand Anderem sprechen. Es gibt keine Worte, die den Schmerz beschreiben könnten. Es ist, als ob dir jemand ein Stück Fleisch aus dem Oberschenkel reisst oder dir den Arm abschneidet, nur dass es sich dabei um die empfindsamsten Teile deines Körpers handelt. Ich rührte mich jedoch keinen Zentimeter, denn ich dachte an Aman und wusste, dass es kein Entrinnen gab. Und ich wollte, daß Mama stolz auf mich war [...]

– Waris Dirie

Waris wurde während dieser Prozedur ohnmächtig, doch als sie aufwachte, kam erst das Schlimmste:

Meine Augenbinde war verrutscht und ich sah, dass die Mörderin eine Sammlung Dornen des Akazienbaums neben sich angehäuft hatte. Mit den Dornen stach sie mir Löcher in die Haut, durch die sie einen festen weissen Zwirn schob, um mich zuzunähen. Meine Beine waren mittlerweile völlig taub, doch der Schmerz in meiner Scheide war so furchtbar, dass ich nur noch sterben wollte. Plötzlich fühlte ich mich emporgehoben, schwebte über dem Boden, liess meine Pein zurück und sah von oben, wie diese Frau meinen Körper wieder zusammenflickte, während meine arme Mutter mich umschlungen hielt. In jenem Augenblick verspürte ich vollkommenen Frieden, hatte weder Sorgen noch Angst [...]

– Waris Dirie

Waris erwachte später am Boden liegend, allein, in der prallen Sonne liegend. Ihre Beine waren von den Fersen bis zur Hüfte mit Stoffstreifen zusammengebunden, so daß sie sich nicht mehr bewegen konnte. Ihre Mutter und ihre Schwester bauten für sie eine kleine Hütte unter einem Baum, in der sie während der nächsten Wochen allein ruhen und sich erholen sollte, bis sie wieder gesund war. Das erste Pinkeln war die absolute Qual, hatte man bei ihr doch nur ein Loch in der Grösse eines Streichholzkopfes frei gelassen. Später entzündeten sich ihre Genitalien und ihre Harnwege und sie bekam hohes Fieber, weil sie versuchte das schmerzhafte Pinkeln mit zusammengebundenen Beinen so lange wie möglich zurückzuhalten…

Als Pubertierende gingen die Qualen weiter - jede Menstruation dauerte mindestens zehn Tage und war begleitet von heftigen Schmerzen, verursacht durch das gestaute Blut. Bis sie sich - schon in London lebend und als Model arbeitend - dazu durchrang, ihre Narbe operativ öffnen zu lassen. Sie beschreibt ihre unheimliche Erleichterung, nicht mehr 10 Minuten zum Pinkeln zu brauchen und endlich ohne Schmerzen menstruieren zu können. Um eine lustvolle Sexualität - weiß sie - ist sie allerdings für immer beraubt worden.

Erst im Lauf der Jahre hat Waris Dirie begriffen, dass sie mit ihrem „Problem" nicht alleine ist. Heute ist sie glücklich verheiratet, Mutter eines kleinen Sohnes und kämpft als UNO-Sonderbotschafterin für die Abschaffung der FGM.

Vorgestern

… erhielt ich von Amnesty International Unterlagen über weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, kurz FGM). Die Zahlen sind erschreckend:

Der Hosken Report, der sich mit der Thematik eindringlich beschäftigt, spricht von 28 Ländern auf dem afrikanischen Kontinent, wo FGM praktiziert wird. Somalia und Djibouti führen die Statistik an, dort fallen 99 Prozent der Frauen FGM zum Opfer. Mittlerweile - hauptsächlich bedingt durch Zuwanderungen - findet man sie aber auch in allen anderen Kontinenten.

  • Nach Schätzungen der UNO gibt es derzeit über 132 Millionen beschnittene Frauen und Mädchen. über zwei Millionen Mädchen werden in Afrika jährlich verstümmelt - das sind 6000 am Tag! Zu den Opfern gehören sieben bis acht Tage alte Babys (Äthiopien, Nigeria), Mädchen in der Pubertät bis hin zu 30-jährigen Frauen. Viele Babys, Mädchen und Frauen sterben bei oder an den Folgen dieser „Operation". Die Überlebenden leiden ein Leben lang unter physischen und psychischen Problemen.
  • Die 3 häufigsten Formen von FGM:
  • Die Klitorisdektomie: teilweise oder vollständige Entfernung der Klitoris
  • Die Exzision: teilweise oder ganze Entfernung der Klitoris und der kleinen Schamlippen
  • Die Infibulation oder Pharaonische Beschneidung: Entfernung der Klitoris, der kleinen und der grossen Schamlippen, wodurch eine rauhe Oberfläche entsteht, die dann zusammengenäht oder zusammengehalten wird. Eine kleine Öffnung bleibt frei, damit Urin oder Menstruationsblut abfliessen können.
  • 85% der FGM im afrikanischen Bereich sind Klitorisdektomien und Exzisionen. 15% der Frauen erleiden eine Infibulation, wie Waris Dirie.

Warum?

Der Hosken Report listet eine Reihe von Gründen für FGM auf. Diese Mythen haben in der afrikanischen Kultur tiefe Wurzeln geschlagen. Sie finden Nahrung vor allem dort, wo das Analphabetentum am höchsten und die Unwissenheit und Armut am grössten ist. Eine dieser Mythen lautet, dass FGM die Fruchtbarkeit fördert und eine nicht genital verstümmelte Frau keine Kinder bekommen kann. In einigen Ländern wie Sudan, Somalia und beinahe in allen afrikanischen Städten werden nicht genital verstümmelte Frauen als schmutzig und unrein angesehen. Moderne Befürworter von FGM sehen darin eine Erhöhung des gesundheitlichen Schutzes. Zum Beispiel im Sudan, im Mittleren Osten und in moslemischen Staaten hält man FGM für notwendig, weil der Frau nicht zugetraut wird, ihre Sexualität zu kontrollieren. Die Wurzel liegt in der Ideologie des Patriarchats, die sichergestellt haben will, dass eine Frau keine eigene Persönlichkeit entwickeln darf. FGM soll die Moral der Frau in der Gesellschaft und die absolute Treue zum Mann sicherstellen. In manchen afrikanischen Gesellschaften ist FGM sogar ein Erfordernis, damit eine Frau verheiratet werden kann. Jede ethnische Gruppe, die FGM praktiziert, hat ihre eigenen Mythen.
Diese Praktiken werden von keiner der grossen Religionen ausdrücklich verlangt. Verlässliche Quellen der Geschichte von FGM sind kaum vorhanden, da die schriftlichen Aufzeichnung fehlen. Tatsache ist, dass FGM in Afrika bereits vor dem Aufkommen des Islams praktiziert wurde, zum Beispiel von den Kopten in Ägypten und Äthiopien.

FGM ist eng mit der afrikanischen Kultur verwoben, mit ihren Traditionen und Mythen. Die Frauen selbst haben diese unvorstellbare Grausamkeit internalisiert und als traditionelle Notwendigkeit anerkannt. So wurde die Geschichte von FGM eingetaucht in Geheimnisse und umgeben von Tabus.

Waris Dirie meint dazu:

[...] über 4000 Jahre lang hat man in afrikanischen Kulturen Frauen verstümmelt. Viele sind der Ansicht, der Koran würde das vorschreiben, da dieser Brauch hauptsächlich in moslemischen Ländern verbreitet ist. Doch weder im Koran noch in der Bibel steht, dass die Beschneidung der Frau ein gottgefälliges Werk sei. Vielmehr wird diese Praktik schlicht von Männern unterstützt und gefördert, von unwissenden, egoistischen Männern, die sich damit ihr alleiniges Anrecht auf die sexuellen Dienste ihrer Frauen sichern wollen. Deshalb verlangen sie, dass ihre Frauen beschnitten sind. Die Mütter fügen sich und lassen die eigenen Töchter beschneiden, aus Angst, diese könnten sonst keinen Ehemann finden. Denn eine Frau, die nicht beschnitten wurde, gilt als schmutzig und mannstoll und kann daher nicht verheiratet werden. In einer Nomadenkultur wie jener, in der ich aufgewachsen bin, ist jedoch kein Platz für eine unverheiratete Frau. Deshalb betrachten es die Mütter als ihre Pflicht, ihren Töchtern gute Startchancen zu verschaffen, ähnlich wie Mütter in Industrienationen es für nötig erachten, daß ihre Töchter eine gute Schule besuchen. Für die Verstümmelung von Millionen von Mädchen jedes Jahr gibt es keinen Grund - ausser Unwissenheit und Aberglaube. Aber die Schmerzen, das Leid und die Todesfälle aufgrund von Beschneidungen sind mehr als genug Gründe, schnellstens damit aufzuhören.

– Waris Dirie

Heute

… sitze ich hier und nütze meine bescheidenen Möglichkeiten, etwas zu tun - indem ich dich als WEGE-LeserIn über FGM informiere. Vorangegangen ist bei mir oft Ratlosigkeit und die Frage: Haben wir hier in Österreich überhaupt das Recht, derart in andere Kulturen und ihre Bräuche einzugreifen? Noch dazu, wo diese Frauen selbst überzeugt sind, daß sie als Beschnittene besser dran sind und ihr Verstümmelungs-Ritual oft sehr vehement verteidigen!?

Mittlerweile wurde aber auch mir klar, dass es hier um eine grundsätzliche Menschenrechtsfrage geht. Es geht um die Rechte und den Schutz von Kindern, und um die Rechte der Frauen auf dieser Welt. Als ErdenbürgerIn hat jede(r) von uns die Verpflichtung, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen, zu erkennen und darauf hinzuweisen, wenn Menschen wider die Menschlichkeit handeln. Und weibliche Genitalverstümmelung ist genauso wie z. B. die Todesstrafe etwas, wo sich gewisse Menschen das Recht nehmen, das Leben anderer zu zerstören.

Internationale Kampagnen gegen FGM

Bis vor einigen Jahren wurde das Problem ignoriert. Aber die Frauen selbst haben das internationale Stillschweigen gebrochen. Aus diesem Grund haben die Vereinten Nationen wie auch das US Department FGM als schwere Verletzung der Menschenrechte geächtet und eine internationale Kampagne gestartet. Ziel dieser Kampagne ist es, dass die afrikanischen Regierungen gezwungen werden, die UN-Konvention für Fraünrechte anzuerkennen und FGM zu verbieten.

FGM geht uns alle an, nicht nur deshalb, weil FGM auch in österreich praktiziert wird. Im August 1999 wurde vom ehemaligen Frauenministerium eine FGM Studie genehmigt, die in Österreich und Afrika durchgeführt wird. Sie wird unter der Federführung von ExpertInnen der Afrikanischen Frauenorganisation erstellt und beleuchtet politische, gesundheitliche, religiöse, ethnische, psychische, kulturelle und soziale Hintergründe.

„Es ist Aufgabe jeder Kultur, ihre ihr innewohnenden Grausamkeiten aufzuspüren, und sie aus ihren Traditionen und Bräuchen zu bannen", erklärte Etenesh Hadis (Vorsitzende der Afrikanischen Fraünorganisationen in Wien) kürzlich bei einer Veranstaltung in Linz. „Daher ist es eine gesellschaftspolitische Verpflichtung, FGM als grausame Menschenrechtsverletzung anzuerkennen und sie zu verbieten."

Unterlagen über FGM kann man bestellen bei: amnesty international, e-mail: info@amnesty.at