Aber warum nicht im gesamten Reich?

Warum hat sich die lateinische Sprache innerhalb kurzer Zeit im gesamten römischen Imperium ausgebreitet und die dortigen einheimischen Sprachen verdrängt?

Nicht aber im östlichen Teil des Reiches und in Nordafrika?

1. Naheliegende Annahme

Man könnte vermuten, daß dies auf den langen Zeitraum von über 1.000 Jahren zurückzuführen war, in dem das Griechische in seinem Mutterland und im östlichen Mittelmeerraum schon zuvor die beherrschende Sprache gewesen war. - Aber diese Annahme ist unrichtig:

Denn im gesamten übrigen Reich (außerhalb Griechenlands und seines Einflußgebietes) sind die heimischen Sprachen unter dem Einfluß Roms und der lateinischen Sprache ja binnen weniger Generationen, also in sehr kurzer Zeit fast völlig untergegangen, obwohl es sich um seit Jahrtausenden benutzte und tief verwurzelte (Mutter-)sprachen gehandelt hat.

Beispiel:

So ist das heutige Rumänien (das damalige Dakien) erst sehr spät - im Jahr 107 nach Chr. - unter römische Herrschaft gekommen, also erst mehrere Jahrhunderte nach der Eroberung des griechischen Territoriums durch Rom.

Und obwohl Dakien dann nur 165 Jahre zum römischen Reich gehörte (es wurde 271 n. Chr. von Kaiser Aurelian aufgegeben) hat sich dort das Lateinische vollständig durchgesetzt und in dieser relativ kurzen Zeit die einheimische Sprache verdrängt.

Und wesentlich länger dürfte es auch in Gallien nicht gedauert habe, bis sich das Lateinische fast völlig durchgesetzt hatte.

Aber warum nicht im östlichen und südlichen Teil des Reiches? Der ja wesentlich länger von den Römern besetzt war als z.B. Dakien?

Griechenland war bereits 146 vor Chr. an das Römische Reich gefallen und eine römische Provinz geworden. Es war somit (bis zum Ende des römischen Reiches im 5. Jhdt. nach Chr) über 600 Jahre lang Teil des römischen Reiches. Ähnlich lange war auch die Zugehörigkeit der östlichen und südlichen Provinzen zum römischen Reich.

Trotzdem hat im östlichen Teil des Reiches

(genauer gesagt: südlich der sog. Jirecek-Linie, die von Albanien über Skopje und Sofia bis zur Donaumündung ans Schwarze Meer reicht)

sowie in sämtlichen asiatischen Provinzen und im größten Teil Afrikas eine sprachliche Romanisierung nie stattgefunden, obwohl diese Gebiete z.T. über 600 Jahre zum römischen Reich gehört haben und der römische Einfluß somit wesentlich intensiver und andauernder gewesen war als z.B. in Dakien, Gallien und auf der iberischen Halbinsel..

Es ist daher einigermaßen überraschend, daß das Lateinische die ursprünglichen Sprachen i.d.R. in relativ kurzer Zeit (im Fall Dakiens in nur wenigen Generationen) verdrängt hat, während dies im angrenzenden Ostteil des Reiches (Rumänisch ist die östlichste romanische Sprache) trotz einer um ein Vielfaches längeren Zugehörigkeit zum römischen Imperium nicht der Fall war.

Ergebnis:

An der zeitlichen Dauer - also wie lange ein Gebiet “latinisiert” wurde - kann es somit nicht gelegen haben.

2. Der Grund hierfür war ein ganz anderer

Der Grund war vielmehr, daß in den östlichen Provinzen die dortige Umgangssprache (das Griechische) in noch höherem Ansehen als das Lateinische stand, so daß es bspw. kein Hindernis für das gesellschaftliche Ansehen oder für eine politische oder militärische Karriere darstellte, wenn jemand “nur” Griechisch sprach. Im Gegenteil !

Das Griechische war die Sprache der Gebildeten, der Wissenschaft, der Kultur - und dies auch in Rom.

Der typische Römer sah Rom als ein Volk zäher, disziplinierter, ungebildeter (wenn auch erfolgreicher) Bauern und Soldaten. Er bewunderte die Literatur, Sprache und Kultur der Griechen in ihrer jahrhundertelangen Tradition, die schon zu einer Zeit Meisterwerke der Dichtung, Bildhauerei und Architektur hervorgebracht hatte, als Rom noch ein unbedeutendes schmutziges Dorf von “Barbaren” war.

Vor diesem Hintergrund galt es in Rom als ein Zeichen von Reichtum und Bildung, einige griechische Vasen oder Amphoren zu besitzen und wenigstens einige Brocken griechisch zu sprechen.

Besonders hohes gesellschaftliches Ansehen hatte es zur Folge, wenn man sich einen griechischen Sklaven (meist einen Kriegsgefangenen) als Hauslehrer für die Kinder leisten konnte, der diese in der griechischen Sprache und Literatur unterrichtete.

Es handelte sich oft um hochgebildete Menschen, die in aller Regel auch nicht wie Sklaven behandelt wurden, sondern in die Familie aufgenommen und später oft auch freigelassen wurden.

Von dem hohen Ansehen, das die griechische Kultur und Sprache in Rom besaßen, zeugt der Satz von Vegetius, der in seinem Werk über das Kriegswesen (de re militari 1,1) die Gründe für die Größe Roms darlegte (vor allem militärische Disziplin) und hierbei die griechische Überlegenheit in der Kultur mit den Worten anerkannte:

Niemand zweifelte daran, daß wir vor dem Wissen und der Klugheit der Griechen zurücktreten müßten
(Graecorum artibus prudentiaque nos uinci nemo dubitauit) [u = v]

Das Griechische war dem Lateinischen an Ansehen und gesellschaftlicher Bedeutung somit weit überlegen.

Aus diesem Grund gelang es dem Lateinischen dort nicht, das Griechische zu verdrängen und romanische Sprachen entstehen zu lassen.
Griechisch zu sprechen war fast noch wichtiger als das Beherrschen der lateinischen Sprache.

Abgesehen aber von diesen Gebieten (Ostteil des Reiches und den asiatischen und den meisten afrikanischen Provinzen) wurde jedoch im gesamten übrigen römischen Reich Latein gesprochen.

Dabei ging ging die Romanisierung bspw. in Gallien so rasch und gründlich vonstatten, daß das Keltische wenige Jahrhunderte nach dem Gallischen Krieg (vgl. Caesar, De bello gallico) völlig verschwunden war.

3.

Das gesprochene Latein war somit zur Umgangssprache sämtlicher Bürger des römischen Reiches geworden.

Natürlich wies das Latein, als es sich mit der Expansion Roms über fast die gesamte damals bekannte Welt ausbreitete, örtliche Unterschiede auf.

Diese gingen zum einen auf die Sprachgewohnheiten der dort lebenden Urbevölkerung zurück, die das Latein übernahm, zum Teil waren sie auf die Dialektunterschiede der römischen Ansiedler zurückzuführen.

Denn die römischen Soldaten, Kaufleute und Bauern, die sich in den Provinzen des Reiches niederließen, stammten aus verschiedenen Teilen Italiens und hatten so schon von Hause aus gewisse dialektische Eigenheiten.

Auf diese Weise entwickelte die Lingua Romana - wie nicht anders zu erwarten war - eine nordafrikanische, eine gallische und eine spanische Form.

Aber trotzdem war die Sprache Galliens und Spaniens zur Zeit des Zusammenbruchs des römischen Reiches noch im wesentlichen die gleiche. Ein Gallier und ein Spanier konnten sich so gut verständigen wie heute etwa ein Berliner und ein Schwabe.