Zahl der Sprachen / Gründe

Wie viele Sprachen gibt es eigentlich?

Diese Frage ist bis heute heftig umstritten. Die meisten Werke nennen eine Zahl zwischen 4.000 und 5.000, im Vordrängen scheint jedoch die Zahl 6.500 zu sein. Die Schätzungen schwanken jedoch zwischen 3.000 und 10.000 Sprachen, was jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit zu viel ist.

Es gibt verschiedene Gründe für diese Unsicherheiten. Die Probleme beginnen bereits bei der Frage, was eigentlich als Sprache zählt.

Sprache oder Dialekt ?

Sehr häufig ist nämlich unklar, ob es sich im Einzelfall um eine Sprache handelt. Um zu entscheiden, ob es sich überhaupt um eine Sprache (oder nur um einen Dialekt) handelt, muß an sich mit ihren sprachlichen, historischen und kulturellen Grundlagen auseinandersetzen. Näheres hier

Entdeckungen neuer Sprachen

Selbst heute noch werden in unerforschten Gebieten der Erde ständig neue Völker (und damit neue Sprachen) entdeckt, vor allem im Amazonasgebiet, in Zentralafrika und in Neuguinea.

Ebenso kommt es vor, daß zwar die Bewohner einer Region bekannt sind, nicht aber die dort gesprochenen Sprachen. In vielen Ländern sind die Landessprachen nicht oder nur unvollständig erfaßt. Oft stellt sich die Annahme, daß die Menschen einer bestimmten Region eine der dort geläufigen Sprachen oder einen Dialekt hiervon sprechen, bei näherer Betrachtung als falsch heraus: Die Unterschiede erweisen sich häufig als so gravierend, dass eine separate Sprache angesetzt werden muß.

Lebende oder tote Sprache?

Neben dem vorstehenden Umstand, der die Gesamtzahl der bekannten Sprachen erhöht, gibt es einen wichtigen Faktor, der sie reduziert:

Damit eine Sprache als “lebend” eingestuft werden kann, muß sie als Muttersprache gesprochen werden. In vielen Fällen lässt es sich jedoch nicht ohne weiteres sagen, ob es noch Sprecher gibt und ob sie - falls noch vorhanden - ihre Muttersprache noch regelmäßig verwenden.

Bei kleineren Sprechergemeinschaften können Sprachen mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit aussterben. Innerhalb nur einer Generation können alle Spuren einer Sprache verschwunden sein.

So brachte die Erkundung des Amazonasgebiets zwar die Entdeckung vieler neuer Sprachen mit sich - aber auch ihren raschen Niedergang, da die Ureinwohner von der übermächtigen westlichen Zivilisation aufgesogen werden. Politische Entscheidung zwingen die Stämme, fortzuziehen oder sich zu spalten, wirtschaftliche Gründe bewegen junge Leute dazu, ihre Dörfer zu verlassen, neue Krankheiten fordern ihren Tribut.

Im Jahre 1962 wurde die Sprechergemeinschaft des Trumai, bestehend aus einem einzigen Dorf am Unterlauf des Culuene in Venezuela, durch eine Grippeepidemie auf eine Zahl von weniger als 10 Sprechern reduziert.

Im 19. Jahrhundert vermutete man in Brasilien über 1.000 Indianersprachen; heute sind es weniger als 200.

Sprachnamen

Häufig kommt es auch zu Doppel- und Mehrfachzählungen, weil die Namen kleinerer Sprachen unklar sind.

Im Fall der großen Weltsprachen stellt sich dieses Problem nicht: Sie sind im allgemeinen unter einem einzigen Namen bekannt, der sich eindeutig in andere Sprachen übersetzen lässt (Deutsch, German, Tedesco, Nemetskiy, Allemand). Doch oft ist die Lage schwierig.

Zum einen haben viele Sprechergemeinschaften keinen spezifischen Namen für ihre Sprache: Der Sprachnahme besteht aus einem gewöhnlichen Wort oder Ausdruck aus dieser Sprache (z.B. ”unsere Sprache” oder ”unser Volk”).

  • Diese Fälle sind in Afrika recht häufig: So bedeutet der Name ”Bantu”, der eine ganze Sprachfamilie bezeichnet, schlicht Volk).
  • Auch in Mittel- und Südamerika findet man häufig Sprachnamen wie Volk, Feind, Waldleute.
  • In mehreren Sprachen der australischen Ureinwohner ist der Sprachnahme gleichbedeutend mit dem Namen für “dies”. So heißen die 9 Sprachen der Yuulngu-Familie Dhuwala, Dhuwal, Dhiyakuy, Dhangu, Dhay’yi, Djangu, Djinang, Djining und Nhangu. - Die dortigen Muttersprachler zu fragen, welche Sprache sie sprechen, ist unter solchen Umständen wenig sinnvoll: Die Antwort würde stets “dies” lauten!

Das andere Extrem bilden Gemeinschaften, deren Sprache zu viele Namen hat.

So kann ein südamerikanischer Indianerstamm zunächst einen Namen (und damit oft auch den Namen für ihre Sprache, vgl. oben) haben, mit dem sie sich selbst bezeichnen,
und einen Namen, unter dem sie benachbarte Stämme kennen (z.B. bedeutet das das araukanische puelche “Leute aus dem Osten”),
und schließlich einen Namen, unter dem die spanischen Eroberer sie (und ihre Sprache) versahen (vielleicht nach einer Auffälligkeit im Aussehen - so ist Coroado portugiesisch für “gekrönt”).

In jüngster Zeit haben sich vielleicht auch noch Anthropologen und Linguisten einen Namen für ihre Sprache ausgedacht, wobei sie oft auf geographische Angaben zum Lebensraum des Stammes, um dessen Sprache es geht, zurückgreifen (z.B. “flußaufwärts” oder “flußabwärts”)

Manchmal kann ein und dieselbe Sprache im Spanischen, Portugiesischen, Englischen und ihrem eigenen Schriftsystem (falls ein solches existiert) unterschiedlich geschrieben werden. Schwanken dann auch noch die Anfangsbuchstaben (häufig bei C, K und Ch), ist eine Indexierung besonders fehlerträchtig.

Und schließlich wird derselbe Name auch für 2 Sprachen angewandt, etwa wenn Mexicano in Mexiko einmal für das Spanische (sonst Espanol oder Castellano) und einmal für die wichtigste Indianersprache (Nahuatl) gebraucht wird.

Ergebnis

Berücksichtigt man all diese Faktoren, wird offenkundig, daß sich die Frage, wieviele Sprachen es gibt, nicht mit einem Satz beantworten läßt.

Quelle: Crystal, Enzyklopädie der Sprachen, S. 284 f