Entwicklung der Grammatik
Von grundlegender Beurteilung für die Eingruppierung einer Sprache ist die Frage, ob es sich um eine flektierende Sprache handelt.
1. Begriff: Flexion
Wegen der großen Bedeutung des Begriffs für die gesamte Linguistik sei das Wesen der Flexion kurz dargestellt:
Unter Flexion (Beugung) versteht man die Abwandlung eines Wortes im Hinblick auf seine Funktion im Satz. - Flexion ist bekanntlich der Oberbegriff für Konjugation, Deklination und Komparation, nämlich die
- Konjugation des Verbs, für Unterschiede in Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus (Aktiv/Passiv), z.B. im Deutschen: lieben, liebte, geliebt.
- Deklination von Substantiv und Adjektiv, für Veränderungen des Substantivs im Hinblick auf Numerus, Kasus und Genus, z.B. im Spanischen: muchacha “das Mädchen”, muchachas “die Mädchen”, muchach o ”der Junge”, muchachos “die Jungen”.
- Komparation des Adjektivs für Steigerungen des Adjektivs, z.B. klein, kleiner, am kleinsten.
Die Flexion kann auf 2 Arten erfolgen, nämlich:
- innerer Flexion durch Ablaute (wie in sprechen, sprach, gesprochen) und
- äußerer Flexion durch Affixe, die selbst keine eigene Bedeutung haben, sondern mit bedeutungstragenden Wortstämmen verbunden werden (wie -end in liebend, -te in liebte und -e in Schwein-e).
Die meisten modernen indogermanischen Sprachen besitzen die Fähigkeit zur inneren Flexion durch Ablaute (Vokalveränderung - z.B. laufen - lief) und zur äußeren Flexion (Affixe - z.B. lieben - ge-liebt).
Häufig finden sich beide Möglichkeiten in einem Wort (z.B. im Deutschen Männ-er von Mann). Die innere Flexion ist besonders typisch für die semitischen Sprachen (z.B. Arabisch). Chin. Schrift
Die indoeuropäischen Sprachen sind geradezu ein Musterbeispiel für flektierende Sprachen (Ein schönes Beispiel ist das lateinische lauda-vissemus).
Dagegen ist z.B. Chinesisch ein typisches Beispiel für eine nicht flektierende (d.h. isolierende) Sprache. Es besteht fast nur aus Wortstämmen.- Das Chinesische hat somit keinerlei Ähnlichkeit mit den indoeuropäischen Sprachen, also auch nicht mit dem (ursprünglichen) Englisch.
2. Verlust der Flexion im Englischen
Das Englische entsprach vor etwa 1.000 Jahren strukturell ungefähr dem Deutschen. Es war insbesondere eine genauso stark flektierende Sprache wie das Deutsche und sämtliche weiteren indoeuropäischen Sprachen, wobei die indogermanische Grundsprache die komplexeste Flexion aufwies.
Das Englische hat jedoch in den letzten 1000 Jahren (seit der Invasion durch die Normannen im Jahr 1066) eine interessante, in der Welt einzigartige Entwicklung genommen: Es hat sich nämlich zwischen diesen beiden Extremen
Indoeuropäisch als Musterbeispiel einer stark flektierende Sprache mit Hunderten von Flexionsendungen und überwiegend mehrsilbigen Wörtern einerseits, und
Chinesisch als typisches Paradebeispiel einer isolierenden Sprache ohne jede Flexion und ausschließlich einsilbigen Wörtern anderseits von einem Extrem zum Anderen entwickelt. Es steht heute – vom Sprachtyp her gesehen – dem Chinesischen wesentlich näher als den europäischen Sprachen.
Im Lauf ihrer Entwicklung hat das Englische (wie zahlreiche indogermanische Sprachen, z. B. das Französische und vor allem das Dänische) also seine flektierten Formen stark abgeschwächt und zum allergrößten Teil ganz verloren.
Dabei haben zum einen die Wortstellung im Satz (die z.B. im Lateinischen frei war und heute im Englischen gebunden ist), sowie zahlreiche Hilfsverben (z.B. will, shall, can, may, have, be – wollen, sollen, können, mögen, haben, sein) die Aufgabe der Flexionsformen (insbesondere bei der Konjugation) übernommen.
Diese Hilfsverben tragen nur noch wenige Merkmale ihrer Wortklasse (Verben). So hat z.B. keines mehr die Endung -s der 3. Pers. Sing. Präsens, wie es sich für ein ordentliches Verb gehören würde. Sie werden im Grunde nur noch wegen ihrer Vergangenheit „Verben“ genannt, sind aber eigentlich längst Partikeln.
3. Vergleich mit dem Chinesischen
Inzwischen ist der Verlust der Flexion im Englischen weitgehend abgeschlossen. Heute ähnelt das Englische von seiner Struktur (nicht vom Wortschatz, usw.) her mehr dem Chinesischen – dem Musterbeispiel für eine nicht flektierende Sprache – als dem Deutschen und anderen germanischen und indogermanischen Sprachen, mit denen das Englische äußerst nah verwandt ist.
So hat die Auszählung von Wörtern beliebiger Texte in verschiedenen europäischen Sprachen folgendes Ergebnis erbracht:
Sprache | Anzahl der Wörter | davon einsilbige Wörter | Prozentsatz der einsilbigen Wörter |
---|---|---|---|
Englisch | 139 | 124 | 90 |
Isländisch | 138 | 100 | 73 |
Deutsch | 135 | 100 | 74 |
Französisch | 121 | 78 | 64 |
Latein | 92 | 26 | 28 |
Das Chinesische als das Musterbeispiel einer monosyllabischen (d.h. einsilbigen) Sprache besteht überwiegend aus ein- oder zweisilbigen Wörtern und hat überhaupt keine Flexion .Aufgrund des weitgehenden Flexionsverfalls in den letzten 1000 Jahren ist das Englische dem Chinesischen immer ähnlicher gewordenen und auf dem besten Weg zu einer monosyllabischen Sprache.
Folgende 4 Merkmale begünstigen diese Entwicklung:
- Erstens ist das Englische (vor allem das Angloamerikanische) sehr reich an einsilbigen Wörtern
- Zweitens sind gewisse Klassen von einsilbigen Wörtern (z.B. die unbestimmten Artikeln und die Hilfsverben) ganz besonders wichtig. Sie bestehen im Englischen immer nur aus einer Silbe, im Deutschen ganz überwiegend aus 2 Silben)
- Drittens ist es im Englischen nicht mehr möglich, eine klare Grenzlinie zwischen den einzelnen Wortklassen (Verb, Substantiv, Adjektiv, usw.) zu ziehen. Die englischen Stämme sind daher ganz universell einsetzbar – Völlig anders als im Deutschen, wo es in dieser Richtung (von einzelnen Ausnahmen abgesehen) nur den substantivierten Infinitiv („das Arbeiten in dieser Firma macht mir Spaß“) und das substantivierte Adjektiv („das Gute im Menschen“) gibt.
- Und schließlich werden viele mehrsilbigen Wörter im Englischen einsilbig ausgesprochen. Vgl. z.B. die praktisch identischen Worte für Ich habe (I have): deutsche Aussprache: ich ha-be (2 Silben), englische Aussprache: ei häw (1 Silbe), oder für Ich bin: (2 Silben) gegenüber I’m Aussprache: eim (1 Silbe)
Entwicklung: Der englische Wortschatz ist somit auf dem besten Weg, wie das Chinesische ein Wortschatz von Partikeln zu werden, nachdem auch im Englischen – je nach dem Zusammenhang und ganz anders als im Deutschen (vgl. soeben) – derselbe Wortstamm bereits heute die einzige Form eines Verbs, die einzige Flexion eines Substantivs oder ein flexionsloses Adjektiv sein kann.
Von seiner Struktur her steht das Englische also einer grundverschieden anderen Sprache (dem Chinesischen) heute wesentlich näher als einem seiner engsten Verwandten, dem Deutschen. –
Es ähnelt heute (nach nur 1000 Jahren Entwicklung) mehr einer Sprache, mit der es ursprünglich nicht, aber auch gar nichts gemeinsam hatte (die beiden Sprachen sind im übrigen so unterschiedlich, wie sie unterschiedlicher nicht sein können).
Der Flexionsverlust hatte natürlich (zwangsläufig) einen Verlust an Kompaktheit zur Folge, weil z.B. im Lateinischen eine Wortendung (Flexion) gleichzeitig 4 - 5 verschiedene Informationen enthalten kann. So weist die wörtliche englische Übersetzung von lateinischen Sätzen häufig 2 – 3 mal so viele Wörter auf wie das Original. chin. Haus
Andererseits – und dies war wohl entscheidend für die Entwicklung vom flektierenden zum isolierenden Stil – vereinfacht der Flexionsschwund die Grammatik einer Sprache ganz erheblich.
So sind die wenigen flektierten Formen eines englischen Verbs sehr schnell zu lernen, verglichen mit den bis zu 249 verschiedenen Formen eines griechischen Verbs.