Vulgärlatein: Weitere Entwicklung
Die weitere Entwicklung nach dem Untergang Roms
Im Laufe der Jahrhunderte war das Vulgärlatein somit zur Umgangssprache sämtlicher Bürger des römischen Reiches geworden.
Trotz aller regionaler Unterschiede war die Sprache Galliens und Spaniens zur Zeit des Zusammenbruchs des römischen Reiches noch im wesentlichen die gleiche. Der Fischer in Spanien sprach zwar das Lateinische womöglich etwas anders aus als der gallische Kaufmann in Lutetia. Ein Gallier und ein Spanier konnten sich jedoch so gut verständigen wie heute etwa ein Berliner und ein Schwabe.
Dies änderte sich erst allmählich nach dem Untergang des römischen Reiches:
Im 5. Jahrhundert n. Chr. brach das römische Reich unter dem Ansturm der germanischen Volksstämme im Zusammenhang mit der Völkerwanderung zusammen. Große Teile des Reichs fielen unter germanische Herrschaft. Erwähnt seien hier nur
- die Ost- und die Westgoten, die das Reich zum Zusammenbruch brachten und Rom eroberten,
- die Langobarden, die 200 Jahre lang in Italien herrschten (vgl. den Namen Lombardei),
- die Sueben, die bis nach Spanien kamen,
- die Wandalen, die es bis nach Nordafrika schafften,
- die Burgunder, die den südlichen Teil Frankreichs beherrschten und
- die Franken, die im Norden die Macht übernahmen und dem romanischen Land ihren germanischen Namen gaben.
Natürlich brachten alle diese germanischen Volksstämme ihre eigene, germanische Sprache mit: das Fränkische, das Gotische, das Langobardische, das Burgundische, usw.
Doch dieses Mal verlief die Sprachgeschichte anders als 500 Jahre vorher bei der Romanisierung: Nicht die germanischen Sprachen der Eroberer verdrängten die eingesessene Sprache. Im Gegenteil: Nach einer zweisprachigen Übergangsphase waren es nun die Sprachen der Eroberer, die erloschen, Das Lateinische - obwohl es dieses Mal die Sprache der Besiegten war - behauptete sich.
Mit dem Sprachwechsel ging auch ein Religionswechsel Hand in Hand. Die (germanischen) Franken nahmen den christlichen Glauben an, dessen offizielle Sprache die Sprache Roms - d.h. Lateinisch - war.
Die neuen Herren tauschten ihren germanischen Dialekt zwar bald gegen die Sprache ihrer (ihnen zahlenmäßig und vor allem kulturell weit überlegenen) Untertanen ein. Während der zweisprachigen Übergangsphase veränderte sich das Lateinische aber unter dem Einfluß der neuen Sprachen in gewissem Umfang.
So nahm das herrschende Lateinisch fremde Worte, fremde Strukturen, fremde Artikulationsgewohnheiten aus dem Langobardische in Italien, dem Gotischen in Spanien, dem Fränkischen in Frankreich auf und nahm sie mit auf seinem Entwicklungsweg in die jeweilige romanische Sprache.
1. Der Zusammenbruch des römischen Imperiums (der letzte römische Kaiser wurde 476 n.Chr. abgesetzt) und die politischen Umwälzungen auf Grund des Eindringens der germanischen Volksstämme (Ost- und Westgoten, Vandalen, Burgunder, Franken, usw.) hatten zunächst keine bedeutenden Auswirkungen auf die Sprache.
Wo man zuvor Latein gesprochen hatte, tat man dies auch weiterhin. Die Germanen, die vermutlich nicht sehr zahlreich waren, bildeten eine mächtige Oberschicht, aber ihre Untertanen nahmen deren Sprache nicht an. Vielmehr verschwanden sämtliche germanischen Sprachen nach einiger Zeit, meistens ohne viele Spuren zu hinterlassen.
Das einzige Gebiet, indem die Eroberer ihre Sprache behaupteten, war Britannien..
Auf dem Kontinent verloren die Germanen zwar nicht ihre Macht, aber mit der Zeit setzten sich die Sprachen ihrer Untertanen wieder durch.
2. Der Grund hierfür war folgender:
Die Eroberung durch die Germanen unterschied sich erheblich von der Eroberung durch die Römer einige Jahrhunderte zuvor. Die Germanen waren zwar tüchtige Krieger, aber das war auch schon alles. Sie hatten weder Verwaltungsfachleute noch Steuereintreiber, weder Straßenbauer, Ingenieure noch Priester, und eine hochstehende Literatur oder sonstige Kultur hatten sie schon gar nicht.
Vor allem aber gab es für ihre Sprachen keine Schriftform, die der Lage gewesen wäre, das Latein in juristischen, kaufmännischen, literarischen oder wirtschaftlichen Bereichen zu ersetzen. Die Eroberer konnten zwar militärische Siege verbuchen. Aber das Leben der Zivilbevölkerung ging mehr oder weniger seinen alten Gang
Insofern kann man sagen, daß „Latein und die römische Kultur die germanischen Eindringlinge bezwangen“ (Janson, Latein – eine internationale Sprache).
3. Die wirtschaftlichen Auswirkungen und die Konsequenzen für die weitere sprachliche Entwicklung waren jedoch verheerend. Mit dem Zerfall des Imperiums in kleine und kleinste Königreiche, Fürsten- und Herzogtümer veränderte sich vieles: Handel und Kommunikation nehmen drastisch ab, die großen und kleineren Städte verloren fast völlig an Bedeutung. So sank die Einwohnerzahl Roms von einstmals rund 2,0 Mio. (in der Kaiserzeit) auf rund 35.000 (um das Jahr 700 n.Chr.)!
In vielen Gebieten kann schließlich kaum noch jemand lesen und schreiben. Schulen gibt es fast nur noch innerhalb von Klöstern und Kirchen. Die Selbstversorgung entwickelt sich zum dominierenden Wirtschaftsprinzip. In vielen Orten sind die Gutsherren die einzige noch einflußreiche politische Größe. Im 7. Jahrhundert gibt es in Westeuropa keinerlei starke politische Macht mehr und nahezu keine Organisation außer der christlichen Kirche.
Dies wirkt sich natürlich nachhaltig auf die Sprache aus. Der Handels- und Reiseverkehr kommt fast zum Erliegen. Eine gegenseitige sprachliche Verständigung wird wegen der fehlenden Sprachkontakte immer schwieriger. Da außerhalb der Kirchen und Klöster kaum noch jemand lesen und schreiben kann, sind die Kirche und die Geistlichkeit die einzigen Kulturträger und fast die einzige wirtschaftliche Macht. Sämtliche schriftliche Texte werden daher auf Latein verfaßt. Latein bleibt in ganz Europa die einzige Schriftsprache.
In diese Jahrhunderten wandelt sich die gesprochene Sprache entscheidend. Der vormals starke Einfluß der zentralen Macht in Rom ist nicht mehr vorhanden. Eine Armee existiert nicht mehr. Die Schulen sind geschlossen. Es gibt keine Kaufleute, die neben Waren auch Ideen, Vorstellungen, usw. von einem Teil des Reiches in einen anderen brachten. Jedes Fleckchen ist sich selbst überlassen, die Kontakte nach außen reduzieren sich auf ein Minimum. In gewisser Weise bedeutet dies einen Rückschritt in die Situation vor der Eroberung durch die Römer.
Die Auswirkungen auf die Sprache sind vorhersehbar. Die unterschiedlichen Sprachformen in den verschiedenen Teilen des alten römischen Reiches entwickeln sich wegen der fehlenden Kontakte immer mehr auseinander. Jede Region bildet ihre eigenen sprachlichen Eigentümlichkeiten aus. Während Latein zur Zeit des Imperiums keine oder nur geringe dialektale Unterschiede gehabt hatte, haben sich nur wenige Jahrhunderte später eine Vielzahl regionaler und lokaler Mundarten entwickelt.
4. Um 800 n.Chr. ändert sich die Lage entscheidend. Karl der Große begründet ein riesiges Reich, das sich über große Teile des heutigen Frankreichs, Deutschland und mehrere Nachbarstaaten erstreckt. Er reformiert das Bildungssystem. Die kirchlichen Schulen werden reformiert und verbessert. Immer mehr Menschen lernen Latein zu lesen und zu schreiben. Bis zum 12. Jahrhundert hat sich Latein als Schriftsprache in weiten Teilen Europas eingebürgert, darunter auch in mehreren Ländern, die nie zum römischen Reich gehört hatten, wie dem heutigen Deutschland, Schulen und Dänemark.
Überall ist Latein die dominierende und in vielen Ländern sogar die einzige Schriftsprache geworden. Obwohl es zu dieser Zeit für niemanden mehr die Muttersprache ist, wird Latein - vor allem in der Kirche und in der Wissenschaft - auch häufig als gesprochenen Sprache verwendet. In der Schule und an den Universitäten wird Latein sowohl gesprochen als auch geschrieben.
Erst im 18. Jahrhundert werden wissenschaftliche Veröffentlichungen auch in anderen Sprachen akzeptiert. Der Engländer Newton, der deutsche Leibniz, der Franzose Descartes, usw. verfaßten ihre bahnbrechenden Werke (auch aus den Naturwissenschaften!) allesamt noch auf Latein.
5.Aber selbst die dominierenden Stellung des Lateins vermochte die Entwicklung der gesprochenen Sprache nicht aufzuhalten.
Als sich nach den “dunklen Jahrhunderten” des Mittelalters - der Zeit der Anarchie, des Niedergangs, der Zerstörungen und des Elends - der Vorhang allmählich wieder hebt, besteht eine völlig neue Situation, angesichts der geschilderten Verhältnisse fast zwangsläufig :
Langsam und fast unbemerkt, haben sich in Spanien, Portugal, in der Provence und in Nordfrankreich, Italien und Rumänien eigene Sprachen entwickelt, die so verschieden sind, daß die Menschen einander nicht mehr verstehen.
So hat sich nach dem Zusammenbruch des weströmischen Reiches bspw. Französisch langsam zu einer selbständigen, vom geschriebenen Latein unterschiedenen Sprache (bzw. mehreren französischen Dialekten) entwickelt.
Der erste zusammenhängende französische Text ist in den berühmten Straßburger Eiden enthalten. Diese Eide wurden im Jahre 842 öffentlich von 2 Enkeln Karls des Großen (Ludwig des Deutschen und Karl des Kahlen) geschworen, als sie sich gegen ihren älteren Bruder Lothar I. verbündeten.
Um von den Untertanen des anderen Bruders verstanden zu werden, schwor der eine auf romanisch, d.h. französisch, und sein Bruder auf deutsch. Die beiden Heere leisteten den Eid in ihre jeweiligen Muttersprache.
Die Straßburger Eide stellen die älteste schriftliche Überlieferung eines altfranzösischen Textes und eine der ältesten Überlieferungen eines althochdeutschen Textes dar. Der Text nebst Übersetzung ist auf der nächsten Seite abgedruckt.
Die sprachliche Einigung Frankreichs vollzog sich im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts, als sich der Dialekt der Ile-de-France (d.h. von Paris und Umgebung) allmählich gegen die literarischen Anfänge lokaler Dialekte wie Normannisch, Burgundisch und Pikardisch und das Provencalische durchsetzte.