Buchstabenschrift
Den letzten Schritt in der Entwicklung zur heutigen modernen Schrift stellt die “Erfindung“ der Buchstabenschrift (des Alphabets) dar.
1. Streng genommen ...
... war es keine “Erfindung” im eigentlichen Sinne, sondern die folgerichtige und fast zwangsläufige Weiterentwicklung der Schrift, die sich aus den gestiegenen Bedürfnisse ergab.
So war die Schrift eine entscheidende Voraussetzung für den Aufbau staatlicher Gemeinwesen. Insbesondere sind eine organisierte Verwaltung (z.B. die Erhebung von Steuern und Abgaben!), ein spezialisiertes Militärwesen, ein umfangreicher Handel, eine sich entwickelnde Kultur, usw. ohne die Möglichkeit, die Sprache schriftlich zu fixieren, kaum vorstellbar.
Es bildete sich daher fast zwangsläufig eine immer leistungsfähigere, differenziertere Schrift heraus, wobei sich auch in diesem Zusammenhang wieder die alte Erfahrung bestätigte, daß eine Erfindung immer dann gemacht bzw. eine Entwicklung immer dann stattfindet, wenn sie benötigt wird.
Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung geht man davon aus, daß die Erfindung bzw. Entwicklung der Schrift an mehreren Stellen der Welt gleichzeitig - voneinander unabhängig - stattgefunden hat, nämlich in Ägypten, in Mesopotamien und wohl auch in Südostasien.
Die große Bedeutung der heutigen Buchstabenschrift liegt in ihren praktisch unbeschränkten Variationsmöglichkeiten. Mit ihr läßt sich jedes Wort jeder Sprache eindeutig und reproduzierbar darstellen.
2. Die Entwicklung ...
... der heutigen Schriften erfolgte, von Ausnahmen abgesehen, in 3 bzw. 4 Schritten. Es gilt folgendes grobes Schema:
Piktogramm / Ideogramm => (Phonetisierung) => Silbenschrift => Buchstabenschrift
Mit einer ideographischen Darstellung (Piktogramme) hat die Entwicklung jeder Schrift begonnen. Ebenso ist bei jeder Schrift der entscheidende Durchbruch zu einer “richtigen” Schrift - sozusagen die Initialzündung - durch die Phonetisierung erfolgt.
Dagegen ist der dritte Schritt (die Entwicklung von einer Silbenschrift zu einer Buchstabenschrift) - anders als die beiden ersten Entwicklungsschritte - nicht zwangsläufig. Es gibt unzählige Schriften, die die Entwicklung zur Buchstabenschrift nicht vollzogen haben, wie z.B. japanisch, chinesisch, indisch, usw.
Generell läßt sich sagen, daß sich Sielbenschriften nur dort zu Buchstabenschriften entwickelt hat, wo dies wegen der Eigenart der Sprache erforderlich oder zumindest zweckmäßig war. Hierzu gehören vor allem solche Sprachen, die viele einzelne Konsonanten aufweisen, wie bspw. bei den indogermanischen Sprachen und sehr vielen weiteren Sprachen.
Wo dies dagegen nicht der Fall ist, bestand natürlich keine Notwendigkeit zu einem solchen Schritt. Denn viele Sprachen enthalten ohnehin nur (oder ganz überwiegend) Laute, die aus einem Konsonant und einem nachfolgenden Vokal bestehen.
So bestehen viele indische Schriftsysteme nur aus 2 Sorten von Grundzeichen: V (Vokal) und KV (Konsonant + Vokal). Dabei ist der Lautwert der KV-Zeichen immer Konsonat + a. Will man ein KV-Zeichen mit einem anderen Vokal als a darstellen, wird ein diakritisches Zeichen hinzugefügt. - Ähnliche Schriftsysteme findet man in vielen anderen Ländern in Südostasien, beispielsweise im Laotischen.
Anders ist es natürlich bei Sprachen (und dies sind die meisten), die einen größeren Anteil an Konsonanten aufweisen. Hier war es erforderlich, an Stelle der Silbenzeichen solche für die einzelnen Buchstaben einzuführen. Denn in diesen Sprachen ist der bedeutungstragendende “Lautwert” eben nicht die Silbe, sondern der einzelnen Buchstabe.
3. Im Verlauf ...
... der (Sprach)Geschichte hat es viele Fälle gegeben, in den ein Schriftsystem verwendet wurde, dessen Zeichen nicht zu den Eigenarten der betreffenden Sprache paßten. Die Schreiber hatten die Schrift dann im Laufe der Zeit entsprechend angepaßt, beispielsweise
- durch die Erfindung neuer Zeichen, oder
- durch die Verwendung von Zeichen, die in der Schrift vorhanden waren, aber für die es in dieser Sprache keine Laute gab und die deshalb für die Darstellung der betreffenden Sprache nicht benötigt wurden (BSP), sowie
- dadurch, daß ein Teil der Lautung (z.B. der Vokal) weggelassen wurde, wodurch das Zeichen jetzt nur noch zur Darstellung des Konsonanten verwendet wurde, weshalb der Vokal gesondert (durch ein neu eingeführtes Zeichen) geschrieben wurde.
Dies kann man auch bei der Entwicklung unseres eigenen Alphabets gut beobachten.
Silbenschriften gabe es zu allen Zeiten und in allen Regionen. So waren die Schriften der Bronzezeit im östlichen Mittelmeer (z.B. Linear A; Linear B; Kyprisch-minoisch, Schrift des Diskos von Phaistos; usw.) durchweg Silbenschriften. Es handelt sich überwiegend um griechische Dialekte bzw. archaisches Griechisch, soweit sie entziffert sind.
Bei einer Silbenschrift entspricht jedes Graphem (Zeichen) einer gesprochenen Silbe (in der Regel einem Konsonant-Vokal-Paar), so daß die Kombinationen in die Hunderte gehen können.
Bei den Alphabet-Schriften besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Graphem und Phonem, so daß es sich um die anpassungsfähigsten und ökonomischste aller Schriftsysteme handelt. Anstatt mehrerer Tausend Logogramme (wie z.B. bei der chinesischen Schrift und der japanischen Kanji-Schrift) oder mehrerer Dutzend Silben ist nur eine relativ geringe Anzahl von Zeichen zu lernen, die sich leicht für zahllose Sprachen verwenden lassen.
Die meisten Alphabete bestehen aus 20 - 30 Symbolen, doch je nach Komplexität des Lautsystems sind kürzere oder längere Alphabete möglich. Das auf den Salomon-Inseln verwendete Rotokas-Alphabet dürfte mit 11 Buchstaben das kürzete sein, das Khmer-Alphabet mit seinen 74 Buchstaben das längste.
In einem völlig regelmäßigen Alpabet entspricht jedes Graphem genau einem Phonem. Bei einigen der Systeme, die Linguisten zur Aufzeichnung von Sprachen entwickelt haben, die bislang nicht schriftlich fixiert sind, ist dies auch tatsächlich der Fall.
Bei den meisten heute gebräuchlichen Alphabeten trifft dies jedoch nicht zu, weil entweder das Schriftsystem nicht mit Ausspracheveränderungen Schritt gehalten hat oder die Sprache ein Alphabet benutzt, das ursprünglich nicht für sie entwickelt worden war.
Hinsichtlich der Graphem-Phonem-Entsprechung gibt es große Unterschiede zwischen den Sprachen. An einem Ende finden wir etwa das Spanische und das Finnische, bei denen die Buchstaben den Lauten sehr genau entsprechen, am anderen das Gälische und das Englische, die viele Unregelmäßigkeiten aufweisen. Je weniger Grapheme und Phoneme einander entsprechen, um so größer ist die Zahl der Rechtschreibregeln, die man lernen muß.
Es gibt außerdem viele Alphabete, in denen nur bestimmte Phoneme dargestellt werden. Hierzu gehören z.B. die Konsonanten-Alphabete des Arabischen, Hebräischen und Aramäischen, wo die Kennzeichnung der Vokale mit diakritischen Zeichen (z.B. Punkte) freigestellt ist. In anderen Fällen (etwa den indischen Alpabeten) ist die Verwenung diakritischer Zeichen zur Vokalkennzeichnung vorgeschrieben; sie werden an den Konsonanten angehängt.