Zwei lateinische Sprachen
Wegen der überragenden Bedeutung der Unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache (in sämtlichen Kulturkreisen, vgl. z.B. nur das heutige Englisch!) soll das Thema noch aus einem anderen Blickwinkel dargestellt bzw. vertieft werden:
Seit Latein eine literarische Sprache geworden war (schon ab dem 3. Jhdt. vor Chr.), hatte sich ein scharfer Unterschied zwischen der Umgangssprache und der Sprache der Gebildeten herausgebildet.
1.
Also in ähnlicher Weise, wie es auch in den modernen Sprachen (z.B. Englisch und Französisch) seit Jahrhunderten festzustellen ist.
So war die letzte Fixierung der englischen Rechtschreibung mit dem Aufkommen des Buchdrucks im 15./16. Jahrhundert erfolgte. Diese Schreibung wurde im frühen 18. Jahrhundert verbindlich festgelegt. Im Englischen hat es seit seither noch keine Reform gegeben.Trotz des ständig fortlaufenden Lautwandels ist seither keine Änderung der maßgeblichen Rechtschreibung erfolgt.
So hat seitdem insbesondere ein Schwund von Lauten wie /k/ und /x/ in knight und /w/ in write und vor allem die Great Vowel Shift (also die Frühneuenglische Vokalverschiebung zwischen 1450 und 1750) stattgefunden.
Da die Rechtschreibung sich durch diese Fixierung nicht bzw. nur in geringem Maße an die phonologischen Veränderungen der Sprache dynamisch anpassen konnte, beruht die heutige englische Schreibung auf der spätmittelenglischen Lautung von vor fast 600 Jahren!
Die heutige Schreibung des Englischen stellt daher eine stark historische Orthographie dar, die das Englische so abbildet, wie es vor gut 500 Jahren gesprochen wurde. Und die deshalb von der heutigen tatsächlichen Lautgestalt in vielen Punkten abweicht.
2.
Ähnlich war die Entwicklung beim Lateinischen. Wenn wir also im Folgenden die Entwicklungsgeschichte der romanischen Sprachen vom Latein an verfolgen wollen, müssen wir uns deshalb zuerst einmal klar sein, was wir überhaupt unter “Latein” verstehen.
So wie wir - streng genommen - bei dem Beispiel mit dem Englischen festlegen müßten, ob wir das geschriebene Englisch (mit der Schreibung, die das vor 600 Jahren gesprochene Englisch abbildet) oder das heute gesprochene Englisch meinen (das aber im geschriebenen Englisch nur sehr unvollständig Ausdruck findet). Wobei allerdings ein stillschweigender Konsens besteht, dass im Regelfall das gesprochene Englisch gemeint ist.
Und wenn vom Französisch, Spanisch oder Italienisch die Rede ist, so meinen wir die Sprachen, die von den Franzosen, Spaniern oder Italienern benutzt, d.h. geschrieben und gesprochen werden.
Beim Lateinischen ist dies jedoch weitaus schwieriger. Denn der Begriff “Latein” ist mehrdeutig.
Der Ausdruck Latein wird nämlich - im Gegensatz zum Französischen, spanischen oder Italienischen - in zweifacher Hinsicht gebraucht:
- Er kann sich einmal auf das literarische Produkt beziehen, das der gebildeten Elite diente.
- Man kann aber dabei auch die Umgangssprache meinen, die mit den römischen Waffen noch vor der christlichen Zeitrechnung durch den größten Teil der damals zivilisierten Welt getragen wurde.
Man muß also zunächst angeben, was man meint.
zu 1)
Wenn das literarisches Produkt gemeint ist, so handelt es sich um die Sprache der klassischen Autoren , die in Schulen und auf Universitäten gelehrt wird.
Diese Sprache war aber schon damals - so wie heute - eine tote Sprache, denn sie war schon damals, also zu Zeiten der klassischen Autoren nicht mehr die Sprache des täglichen Verkehrs.
Sie gehört einer Epoche an, als die Schrift noch nicht mit einer Interpunktion ausgerüstet war. Es wurden nämlich keine Bücher für rasches Lesen und ein großes Lesepublikum geschrieben.
Das damals geschriebene Latein wäre für einen heutigen Leser, der durch die Herausgeber klassischer Texte verwöhnt ist, kaum zu entziffern.
- Es gab keinen Punkt und kein Komma,
- es gab häufig nicht einmal Leerzeichen zwischen den einzelnen Wörtern!
- Und bei den griechischen Autoren wechselte sogar die Leserichtung im Text willkürlich.
Eine durchgängige Worttrennung wurde erst im 10. Jahrhundert nach Chr. (!) allgemein eingeführt !
Ein damals geschriebener Satz auf Latein würde also so aussehen:
dasdamalsgeschriebenelatein würdealsosoaussehen
Nun, das geht ja gerade noch. Aber auf Griechisch etwa so:
nehessuaososlaedrüwnietalenebeirhcsegslamadsad
Aber nicht durchgängig, sondern willkürlich von rechts nach links und umgekehrt.
Aus diesen Gründen besteht ein großer Unterschied zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache dieses alten Volkes. Zwischen Varianten beiden liegen Welten!
zu 2)
Wenn wir dagegen vom Latein als Umgangssprache, also als dem gemeinsamen Vorfahren der modernen romanischen Sprachen sprechen, so meinen wir nicht die Literatursprache der römischen Klassiker (die damals schon seit Jahrhunderten nicht mehr gesprochen wurde!), sondern wir meinen die lebende Umgangssprache , die im römischen Gallien, im römischen Spanien und in Italien zur Zeit des Imperiums gebraucht wurde.
Ergebnis:
Während 5 Jahrhunderte gab es also zwei Sprachen im römischen Reich, beide Latein genannt. Während die Umgangssprache ständig im Fluß war, blieb die Literatursprache über einen Zeitraum statisch, die so lang ist wie die Zeitspanne, die Wolfram von Eschenbach von Lessing und Leibnitz trennt.