Ausführliches Beispiel
Das Verfahren ist vom Grundsatz her relativ einfach: Man zieht Schlüsse aus den Verhältnissen einer einzigen Sprache (sog. interne Rekonstruktion) und kommt zu einem vorläufigen Ergebnis, das in einem 2. Schritt (externe Rekonstruktion) noch der Verifizierung (oder Falsifizierung) bedarf. Diese erfolgt dadurch, daß das gewonnene Ergebnis mit möglichst vielen anderen Sprachen verglichen wird.
Die Methodik sei an einem Beispiel verdeutlicht, das gerne im akadamischen Unterricht verwandt wird:
Fragestellung: "Wie lautet das urindoeuropäische Wort für Schnee?"
A.
Man geht i.d.R. von der Sprache aus, die im konkreten Fall das aussagefähigste bzw. umfangreichste Material liefert. Dies ist im Regelfall das Lateinische, da es bei weitem am besten erforscht ist.
Es drängt sich nun die (naheliegende) Annahme auf, daß die 3 Formen
- lat. Nom. Sg. nix Schnee (mit [x] i.S. von [ks])
- lat. Gen. Sg. niv-is und
- verbalem ni-n-gu-it es schneit
auf eine einheitliche Wurzel zurückgehen müssen.
Problem: Aber welches ist die einheitliche Wurzel?
In einem ersten Schritt (sog. interne Rekonstruktion) vergleicht man ähnliche Wörter innerhalb einer Sprache (hier: des Lateinischen). Es kommen 3 Stämme in Betracht: nik, niv und ni-gu.
Geht man in einem ersten Versuch von nik- als Ausgangsform aus, wäre niv-is und ni-n-gu-it nicht erklärlich. Es müßte dann *nik-is bzw. *nicis sowie *nin-k-it bzw. *nin-c-it heißen.
- (Das Zeichen * - sog. Askerix – bedeutet, daß das Wort nicht überliefert, sondern methodisch erschlossen ist.)
Die zweite Möglichkeit wäre, daß niv- die Ausgangsform ist. Dann wäre jedoch als Nominativ *nivs oder *nips und als Verb *ninvit zu erwarten.
Der dritte Versuch bringt die Lösung:
Es paßt alles zusammen, wenn der im Präsensstamm ni-n-gu-it vorliegende Stamm *nigw - [ni-gu-] als usprüngliche Form angesehen wird.
Man muß dann lediglich von der (phonetisch sehr plausiblen) Annahme ausgehen, daß beim Nom. Sg. *nigw-s das labiale Element - w verloren gegangen ist, so daß sich *nigw-s ergibt. Die Assimilation von -g-s zu -k-s ist dann banal. Das gleiche gilt für die Veränderung von *nigwis zu nivis.
Aus dem Lateinischen wird somit (in interner Rekontruktion) zunächst die Ausgangsform *nigw- erschlossen.
B.
Bis hierhin ist es eine reine Vermutung, die stimmen kann oder auch nicht, und die noch der Überprüfung bedarf.
In einem 2. Schritt (sog. externe Rekonstruktion) wird nun das gewonnene Ergebnis mit den (auf ähnliche Weise gewonnenen) Forschungsergebnissen aller verwandten Sprachen verglichen.
Dies führt dazu, daß das Ergebnis der internen Rekonstruktion entweder bestätigt und ergänzt oder aber als zufällig verworfen wird.
1.
Im griech. Akk. Sg. νιφ-α „fallender Schnee“ (überliefert bei Hesiod) ergibt sich, daß der Labiovelar behaucht war, daß also statt *nigwein *nigwhanzunehmen ist. Dies ergibt nach den Regeln des Lautwandels des Urindogermanischen (vgl. Meier-Brügger, L 100 ff, insbes. L 345) ein griech. ph, also ein φ. Das Griech. bestätigt somit den aus dem Lateinischen erschlossenen Stamm *nigw-.
2.
Aus dem Litauischen sniẽgas und dem Altkirchenslawisch snĕgъ (Schnee) wird erkennbar, daß lat. und griech. n- auf *sn- zurückgehen. Hierfür gibt es auch literarische Belege aus dem Griech, z.B. αγά-ννιφος (viel Schnee habend).Das ursprüngliche *sn (Litauisch und Altslawisch) hat sich somit im Wege der Assimilation zu einem nn entwickelt (episches griech.) und ist anschließend zu ein n verschmolzen (altgriech. und lat.).
(Näheres zu den verschiedenen Arten des Lautwandels hier).
Ergebnis: Die vergleichende (externe) Rekonstruktion ergänzt den erschlossenen Stamm also im Ergebnis zu urindogermanisch sneigwh-.
C.
Der externe Sprachvergleich erschließt auch eine weitere Wortbedeutungen. Denn z.B. das Vedische (altindische) snih- („klebrig sein“) legt eine weitere Bedeutung des Wortes nahe, nämlich "kleben": Der „Schnee“ ist das, was an Pflanzen, Lebewesen, usw. „kleben bleibt“. Allerdings sind im Lat. und Griech. keine Anhaltspunkt für diese zweite Bedeutungskomponente (mehr ?) vorhanden, wohl aber in anderen alten Sprachen.
Auch das deutsche "Schnee" ist über das althochdeutsche sneo, Gen. snewes auf das urindogermanische sneigwh- zurückführen.
Quelle: Michael Meier-Brügger, Indogermanische Sprachwissenschaft, 7. Auflage, 2000