Sprachkontakte
Vor allem im Grenzbereich zwischen angrenzenden Sprachgebieten kommt es seit jeher ständig zu vielfältigen Berührungen zwischen Sprechern unterschiedlicher Sprachen.
Diese können auf persönlichen Beziehungen, auf Handelskontakten oder auf kriegerischen Konflikten (Grenzstreitigkeiten) beruhen. Letztere können dazu führen, daß die politische Herrschaft über ein Grenzgebiet öfters wechselt, wodurch die Bewohner mit wechselnden Verwaltungssprachen konfrontiert werden.
Sehr häufig werden auch mehrere der genannten Gründe zusammenkommen. Ein typisches Beispiel hierfür ist das Elsaß, wo eine Mischung zwischen Deutsch und Französisch gesprochen wird (wobei allerdings sämtliche Bewohner natürlich auch Französisch und die meisten auch ganz passabel deutsch sprechen).
Diese Sprachkontakte führen naturgemäß zur Aufnahme zahlreicher Wörter der fremden in die eigene Sprache. Hierfür sind keine langen Zeiträume erforderlich (vgl. nur die Aufnahme zahlreicher Wörter aus dem Französischen in das Deutsche während der relativ kurzen Zeit der französischen Besatzung durch Napoleon anfangs des 19. Jhd. im linksrheinischen Gebiet).
Die Abgrenzung, welche Wörter aufgrund von Sprachkontakten in eine Sprache aufgenommen worden sind und welche Worte zum ursprünglichen Wortschatz gehören, stellt eine der größten Schwierigkeiten der Linguistik dar, wenn es darum geht, den Grad der Verwandtschaft zwischen zwei Sprachen zu erforschen.
Ein gutes Beispiel ist das Deutsche: Deutsch ist eine germanische Sprache, die vom Urgermanischen abstammt
Seit der 1. Lautverschiebung (der germanischen, ca. 500 v. Chr.) spricht man bekanntlich vom Germanischen, seit der 2. Lautverschiebung (der deutschen, ca. 500 n. Chr.) spricht man vom Deutschen.
Und tatsächlich, ein Großteil des deutschen Wortschatzes entstammt dem Urgermanischen. Aber ein nicht unwichtiger Teil deutscher Wörter ist aus dem Keltischen (z.B. Reich, Amt) und vor allem aus dem Lateinischen (z.B. Pfeffer, Mauer) entlehnt worden. Auch in Bezug auf Lautentwicklung und Syntax ist das Deutsche von Nachbarsprachen beeinflußt worden.
Zuverlässiger ist insoweit ein Vergleich der grammatikalischen Strukturen, da die Übernahme der Grammatik oder größerer Teile hiervon eine seltene Ausnahme darstellt.
So hat das Spanische innerhalb der rund 800 Jahre dauernden Besetzung durch die Araber sehr viele arabische Worte aufgenommen, jedoch keine nennenswerte Teil der Grammatik.
Und dies, obwohl die Zeit der spanischen Besetzung rund doppelt so lange gewährt hat wie die Zeit der römischen Herrschaft, als das Lateinische das Iberische und die weiteren Dialekte Spaniens vollständig (auch hinsichtlich der Grammatik) verdrängt hatte !
Im Falle besonders intensiver Sprachkontakte kann es sogar zu einem Sprachwechsel kommen.
Beispiele hierfür sind:
- die Ersetzungen der vor-indoeuropäischen Sprachen durch das Indogermanische,
- der Untergang der keltischen Sprache nach der Eroberung Galliens durch die Römer, oder
- die Verdrängung der Maya- und Inka-Sprachen nach der Eroberung Mittel- und Südamerika durch die Spanier.
Gegenbeispiele sind die bereits erwähnte Besetzung Spaniens durch die Araber, deren Sprache in rund 800 Jahren keinen nennenswerten Einfluss auf die grammatikalische Struktur des Spanischen gehabt hat (anders als z.B. bei den nordafrikanischen Ländern, wo die gleiche Situation zu einem Sprachwechsel (zum Arabischen hin) geführt hat).
Das Spanische ist heute nach wie vor eine typische romanische Sprache. Die Zeitdauer ist somit nicht von entscheidender Bedeutung.
Umgekehrt kann es sogar zu einem Sprachwechsel zu Lasten der fremdsprachigen Eroberer kommen. So setzte sich bei der Kolonisierung Nordfrankreichs im 8./9. Jhd. durch den germanischen Stamm der Franken nicht das Fränkische (Germanische) durch. Vielmehr gingen die Germanen dazu über, Französisch zu sprechen.
Dabei wurde eine Reihe germanischer Wörter in das Französische aufgenommen, von denen einige Wörter dann mehrere Hundert Jahre später aus dem Französischen wieder (als Fremdwörter) in das Deutsche gelangten (sog. Rückwanderer) !
Während der Kolonisierung Nordfrankreichs durch die Franken kam es auch zu dem (seltenen) Ereignis, daß nicht nur einzelne Wörter, sondern auch ein Teil der Grammatik übernommen wurde. Die Franken brachten nämlich die (germanische) Inversion ins Französische, nach der in Fragen wie “Que voulez-vous?” (“Was wollen Sie?”) Subjekt und Prädikat den Platz tauschen. Durch dieses germanische Substrat unterscheidet sich das Französische von den anderen romanischen Sprachen.
Im Extremfall des Sprachkontaktes kann es dazu kommen, daß geographisch benachbarte Sprachen gemeinsame Merkmal annehmen, obwohl sie nicht miteinander verwandt sind.
Ein bekanntes Beispiel ist der Balkan-Sprachraum, wo 4 verschiedene Familien des Indogermanischen einige seltene Merkmal miteinander gemein haben:
- Im Gegensatz zu den angrenzenden Sprachen fehlt dem Griechischen, Rumänischen, Bulgarischen und Albanischen der Infinitiv! - Der im Altgriechischen noch vorhandene Infinitiv ist also im Laufe der Zeit unter dem Einfluß der benachbarten Sprachen abhanden gekommen.
- In allen 4 Sprachen hat sich ein ungewöhnliches Fallsystem gebildet: So fallen der Genitiv und der Dativ nunmehr zusammen (neugriech: tu anthrópu “dem Mann/des Mannes”), und es gibt einen weiteren Fall, dessen Form sowohl für das Subjekt als auch das Objekt stehen kann.
- In den meisten Fällen (außer dem Griechischen) wird der bestimmte Artikel dem Substantiv als Nachsilbe angehängt (z.B. rumänisch: om-ul der Mann, lup-ul der Wolf, lup-ul-ui dem Wolf/des Wolfes)