Hypothese: Nostratisch?
Es ist das Wesen einer jeden Forschung, den Dingen immer tiefer auf den Grund zu gehen.
Auf die Linguistik (insbesondere die Erforschung der Sprachentwicklung) übertragen, bedeutet dies: Immer weiter in die Vergangenheit zu gehen. Das Motto könnte lauten:
„Und was war vorher?“
1.
Der erste Schritt auf diesem Weg war die Erkenntnis, daß praktisch alle Sprachen Europas und viele Sprachen Asiens (über Persien bis nach Indien) einen gemeinsamen Ursprung haben, also miteinander verwandt sind. In Hinblick auf die Ausdehnung dieser Sprachfamilie (von Westeuropa bis nach Indien) faßte man diese Sprachen unter der Bezeichnung „indoeuropäisch“ zusammen.
Damit hatte man die erste „Sprachfamilie“ erkannt. Ähnliche Zusammenhänge entdeckte man später bei den meisten Sprachen der Welt und faßte diese ebenfalls – entsprechend ihrer Verwandtschaft, d.h. gemeinsamen Herkunft – in Sprachfamilien zusammen (z.B. uralisch, kaukasisch, austro-asiatisch, sino-tibetisch, hamito-semitisch, indopazifisch, usw.). Vgl. die grafische Übersicht.
Nachdem man damit die Entwicklung der Sprachen bis in den Zeitraum um das Jahr 3.000 vor Chr. erforscht hatte, stellten sich die Linguisten die Frage, die sich alle Forscher stellen, die sich mit der Entwicklung einer Sache beschäftigen, gleichgültig ob Geologie, Anthropologie, Archäologie, usw.: „Und was war noch früher?“
2.
Es war daher letztlich nur konsequent, daß die Sprachforschung auch der Frage nachgegangen ist, wie sich die Sprachen vor der Zeit der Indoeuropäer entwickelt hatten.
Letztlich ging es auch um die Beantwortung einer Frage, die die Menschen schon seit Jahrtausenden beschäftigt:
„Gibt es eine Ursprache?“
Über die Ursprünge der Sprache wird seit Jahrtausenden spekuliert. Welche Sprache ist die älteste? Sind alle Sprachen aus einer einzigen hervorgegangen oder haben sie sich unabhängig voneinander in verschiedenen Regionen der Welt entwickelt? Wie entstanden die Wörter?
Diese Fragen sind faszinierend und gaben schon vor 3.000 Jahren Anlaß zu Experimenten und Diskussionen.
So soll der ägyptische Pharao Psammetich I. (7. Jhdt. vor Chr.) nach einem Bericht Herodots versucht haben, durch ein Experiment herauszufinden, welches Volk der Erde das älteste sei. Zu diesem Zweck suchte er nach der ältesten Sprache. Um dies herauszufinden, gab er einem Schafhirten zwei Neugeborene einfacher Abstammung mit und verbot ihm, mit den Kindern zu reden, sowie jeglichen Kontakt mit anderen Menschen.
Die Kinder sollten in absoluter Abgeschiedenheit von den Einflüssen der Umgebung aufwachsen. Bei der Sprache, in der die Kinder - ohne Beeinflussung von außen - dann reden würden, müsse es sich nach der Vorstellung des Pharao dann um die Ursprache handeln.
Das Experiment erbrachte kein eindeutiges Ergebnis (Einzelheiten hier S. 288). Ob es überhaupt stattgefunden hat, ist ebenso zweifelhaft wie bei 2 ähnlichen Experimenten.
Die Fragestellung beschäftigt also schon seit jeher das Interesse der Menschen und der Forschung.
Die Suche nach dem Ursprung der Sprachen ist letztlich eine Reise in die Vergangenheit. Dabei drängt sich, wie gesagt, die Frage auf:
„Und was war vorher?“
Was vor dem Lateinischen, Altgriechischen, Germanischen, Keltischen, Persischen, usw. war (das Indoeuropäische), ist inzwischen sehr gut erforscht. Obwohl es keine einzige schriftliche Aufzeichnung über die indoeuropäische Ursprache gibt, konnten die Wissenschaftler sie recht genau erschließen, sogar was die Aussprache anbetrifft. Die hierbei angewandten Methoden werden hier dargestellt.
Aber bei der Frage:
„Und was war vor den Indoeuropäern ?“
scheiden sich die Geister.
Immerhin geht es um den Zeitraum vor (deutlich) mehr als 5.000 Jahren, also um die Jahrhunderte und Jahrtausende vor dem Bau der ägyptischen Pyramiden und den ersten schriftlichen Zeugnissen überhaupt, nämlich den ägyptischen Hieroglyphen und den sumerischen Keilschriften !
Die meisten Wissenschaftler sind naturgemäß skeptisch. Sie geben zu bedenken, daß jede auf indirekten Methoden beruhende Forschung um so ungenauer werde, je weiter sie in die Vergangenheit reiche, und daß Informationen, die über so lange Zeiträume und auf so indirektem Wege zu uns kommen, „im Rauschen eines zufälligen Sprachwandels unterzugehen drohen wie das Signal eines weit entfernten Rundfunksenders“.
3.
Diese Kritik hat jedoch einige (auch renommierte) Forscher nicht davon abgehalten, die Erforschung dieser Zeiträume - mit neuen, unkonventionellen Methoden – zumindest zu versuchen und sozusagen „das Rauschen herauszufiltern“.
Dies versucht seit einigen Jahrzehnten – mit wachsenden Erfolg – eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern, die dort anfangen, wo die klassischen Forscher aufhören. Sie gehen davon aus, daß „unsere“, also die indoeuropäische Sprachfamilie mit einer Reihe von weiteren Sprachfamilien zu einer „Superfamilie“ zusammengefaßt werden kann.
Zu der „Nostratischen“ Sprachfamilie (von lat. noster = unser) gehören - neben der indoeuropäischen Familie - u.a. auch die drawidischen Sprachen Südindiens, die uralische Familie (u.a. mit Finnisch), die altaischen Sprachen (mit Türkisch und Mongolisch) sowie die afro-asiatische Sprachfamilie (mit Arabisch und den Berbersprachen).
Der prominentester Vertreter der Nostratiker ist Joseph H. Greenberg von der Universität Stanford, der vor einigen Jahrzehnten mit unkonventionellen Methoden und einem ganz neuen Forschungsansatz den Nachweis geführt hatte, daß sich die unzähligen Sprachen Afrikas in nur 4 Sprachfamilien zusammenfassen lassen, und der seine Methode später auch auf die Sprachen Amerikas angewandt hatte, wobei er sämtliche Sprachen der neuen Welt in 3 Hauptfamilien zusammengefaßt hat: Nadene, Eskomo-Aleutisch und Amerindisch (= Amerindianisch). – Näheres hier
Gemeinsame Urheimat - gemeinsame Ursprache?
Greenberg geht von der (wohl allgemein anerkannten) "Out of Africa"-Theorie aus, wonach die Wiege der Menschheit in Afrika stand und der Mensch vor 100.000 bis 150.000 Jahren von dort aus die übrigen Kontinente besiedelte. Er unterstellt, daß es zumindest zu dieser Zeit noch eine weitgehend gemeinsame Sprache gab.
Anfangs seien es wohl nur etwa 2000 Menschen gewesen, die sich aus dem Nordosten Afrikas, wo ihre eigentliche Heimat war, aufmachten und sich über Asien, Europa, Sibirien und die beiden Amerikas verstreuten. Mit Haut, Haar und körperlicher Gestalt paßten sie sich immer mehr den Lebensbedingungen ihrer neuen Welten an. Mit den Generationen, die kamen und gingen, veränderte sich naturgemäß auch die Sprache der Menschen in den jeweiligen Gegenden, und schließlich war die alte Sprache vergessen.
Allerdings blieben sich die Dialekte, die auf den einzelnen Kontinenten schließlich gesprochen wurden, noch soweit ähnlich, daß sie zu großen Super-Familien zusammengefasst werden können. Dabei geht Greenberg davon aus, daß die Merkmale, die heute in einer Sprache erkennbar sind, auf frühere Sprachgemeinsamkeiten schließen lassen.
Eine dieser Superfamilien nannte Greenberg vor einigen Jahren in einem Buch über die beiden Amerikas "Amerindisch". Kennzeichnend für die amerindischen Sprachen, die in beiden Amerikas gesprochen werden, ist nach Greenberg zum Beispiel, daß Wörter, die mit "n" beginnen, fast immer die 1. Person, also den Sprecher und die Seinigen bezeichnen, also fast immer 'ich', 'mein', 'wir', 'unser' bedeuten. Dagegen sind Wörter, die mit "m" beginnen, für die 2. Person, also den Anderen bzw. die Anderen reserviert.
In seinem Anfang des Jahres 2000 erschienenen ersten von zwei Büchern über "Eurasiatisch" hat Greenberg die meisten der europäischen und asiatischen Sprachen als zur "eurasiatischen" Superfamiliezugehörig klassifiziert. Er spannt damit ein Verwandtschaftsband von Englisch bis Japanisch und findet tatsächlich gemeinsame Züge.
Wörter mit "m" am Anfang bezeichnen in vielen eurasiatischen Sprachen die erste Person, das Ich: Englisch "me", Finnisch "minä"; Russisch "menja", "mne", Proto-Altaisch "min", Alt-Japanisch "mi", Deutsch „mein“. Ebenso wird in vielen eurasiatischen Sprachen der "n"-Laut für eine Verneinung gebraucht, von "no"/ "not" im Englischen, "non"/ "ne" im Französischen, "njet" im Russischen, „nein“ im Deutschen" bis zur Endung "-nai", mit der im Japanischen Verben verneint werden.
Die Thesen von Joseph H. Greenberg sind nicht unumstritten. Die meisten Sprachwissenschaftler verweisen darauf, daß Sprache sich derart schnell verändert, daß sie bestenfalls ein paar Tausend Jahre zurückverfolgt werden kann. Andere Kritiker, die sich auf sein Gedankengebäude zunächst einlassen, halten es für unzulässig, schon Verwandtschaften zu sehen, wenn sich Wörter aus verschiedenen Sprachen nur ähneln (hierzu ein schönes Beispiel Beispiel aus dem Lateinisch/Griechischen). Das könne Zufall sein oder auch daran liegen, daß die eine Sprache bei der anderen Sprache auf Grund eines Sprachkontakts Wörter "ausgeliehen" (entlehnt) hat.
Dem ist allerdings entgegen zu halten, daß bei einem Sprachkontakt im allgemeinen nur Wörter entliehen werden, und nicht auch grammatische Strukturen, wie z.B. das „m“ und „n“ am Anfang eines Wortes als grammatische Bezeichnung für die 1. und 2. Person.
Außerdem ist es beim besten Willen nicht einsichtig, wie solche Übereinstimmungen durch Sprachkontakt erklärt werden soll, der erst in der Zeit nach der Ausbreitung auf weite Teile der Welt stattgefunden hätte, als die Stämme bzw. Völker ja (wegen der riesigen Entfernungen) in überhaupt keinem Kontakt mehr zueinander gestanden haben können! Wie soll bspw. der Kontakt zwischen dem germanischen Jäger und dem japanischen Bauern funktioniert haben?
Und wenn die Ähnlichkeiten auf Sprachkontakte vor der Verbreitung der Menschheit über die Welt (also wohl noch in Afrika oder kurz darauf) zurückzuführen wäre, so wäre dies m.E. kein Argument gegen das Greenberg-Modell. Denn dann wären diese Ähnlichkeiten ja Bestandteil der Ursprache, als genau das, was Greenberg ja postuliert.
Die Kritiker wollen erst dann eine Verwandtschaft anerkennen, wenn sich die Ähnlichkeit regelhaft, also nach festen Gesetzmäßigkeiten einstellt, so wie sich etwa der "p"-Laut im Indoeuropäischen zum "f"-Laut im Englischen und Deutschen entwickelte (wie man es etwa an "pater" --> "father" bzw. "Vater" noch erkennen kann) – sog. 1. (germanische) Lautverschiebung.
Andererseits kann das Herausarbeiten von Gesetzmäßigkeiten erst der zweite Schritt sein. Auf den Punkt gebracht:
- Greenberg postuliert, daß es so ist, und belegt seine Theorie mit eindrucksvollem Material
- Warum es so ist, und aufgrund welcher Gesetzmäßigkeiten es so geworden ist, muß die weitere Forschung emitteln.
Trotz seiner kühnen Theorien und der Kritik, die ihm entgegengehalten wird, ist Greenberg kein Außenseiter in seiner Zunft. Er ist einer der wenigen Linguisten, die zur amerikanischen National Academy of Sciences gehören, der exklusivsten wissenschaftlichen Organisation der USA, und seine Werke finden starke Beachtung in der Fachwelt.
Schützenhilfe für seine Theorie bekommt der Sprachwissenschaftler, der auch Anthropologie studiert hat, interessanterweise aus der Naturwissenschaft. "Wir haben eine Reihe von bedeutsamen Entsprechungen zwischen dem, was ersagt, und dem, was wir in der Genetik wissen", sagte Luca Cavalli-Sforza, Populationsgenetikerin aus Stanford, gegenüber der "New York Times". So könnte die Sprachtypologie einen Beitrag leisten zur Rekonstruktion der Wanderungsbewegungen der frühen Menschen.
Zusammenfassung:
Greenberg wagt den Versuch, die Sprachforschung noch ein großes Stück weiter in die Vergangenheit zu richten. Seine Theorie läuft darauf hinaus, daß es eine Art “Ursprache” gibt, und daß sich diese heute noch - wenn auch nur in groben Zügen und in Teilbereichen - ermitteln läßt.