Sprachen der Südsee

Die austronesische Sprachfamilie erstreckt sich über ein riesiges Gebiet – von Madagaskar/Afrika über Südostasien (Malasia, Sumatra, Philippinen, Indonesien, Taiwan) bis nach Neuseeland, Hawai und den Osterinsel, also fast bis Amerika. – Also im wahrsten Sinne des Wortes: “Um die halbe Welt”

Sie ist nicht nur die geographisch bei weitem größte, sondern auch hinsichtlich der Sprecherzahl (rund 200 Millionen) und der Anzahl der Sprachen (cirka 700 Sprachen) eine der Größten.

Extreme Sprachenvielfalt

Die Sprachendichte ist in diesem Gebiet ganz enorm und stellt sogar die kaukasischen Sprachen noch in den Schatten.

Die entsprechenden Zahlen klingen wirklich unglaublich:

  • Auf den Philippinen - mit einer Bevölkerung von 40 Mill. Einwohnern halb so groß wie Deutschland - werden 70 Sprachen gesprochen.
  • Auf der Inselwelt von Mikronesien leben 200.000 Einwohner, die 12 Sprachen sprechen.
    Dies bedeutet, auf Deutschland übertragen: In einem kleinen Stadtteil eine deutschen Großstadt gäbe es nebeneinander 12 eigene, selbständige Sprachen!
  • Noch unglaublicher die Verhältnisse auf den Inseln von Melanesien: Bei 1,2 Mill. Einwohnern (dies entspricht der Einwohnerzahl von München) gibt es dort - sage und schreibe - 350 (!) selbständigen Sprachen! Für je 3.500 Einwohner eine eigene Sprache!
  • Wirklich kaum noch vorstellbar sind jedoch die Verhältnisse auf Vanuatun / Melanesien. Die Insel hat nur rund 150.000 Einwohner, aber über 105 unterscheidbare Sprachen! Auf jede Sprache kommen somit nur rund 1.500 Sprecher!

Um eine Vorstellung von dieser extremen Sprachenvielfalt zu gewinnen, muß man sich dies einmal für unsere eigene Umgebung vor Augen halten:

In einer (relativ kleinen) Stadt mit 100.000 Einwohner: rund 70 Sprachen!

In Köln, Frankfurt, Essen, Dortmund, Stuttgart oder Düsseldorf: fast 400 Sprachen

Und bei Städten wie Hamburg oder gar Berlin versagt dann jede Vorstellung.

Wie gesagt: Es handelt sich um unterscheidbare, selbständige Sprachen, nicht etwa um reine Dialekte!

Gründe für diese Sprachendichte

Es stellt sich dann natürlich die Frage, wie es zu diese unglaublichen Vielfalt kommen konnte. Wie erklärt es sich, daß (z.B. bei Papua-Neuguinea) ein Gebiet, das nur 0,1 % der Weltbevölkerung stellt, fast 1/6 der Sprachen der Welt beherbergt?

Diese Frage ist ebenso interessant wie komplex.

Üblicherweise wird hierzu angeführt, daß die Volksstämme durch Gebirge, zerklüftete Landschaften und ständige kriegerische Auseinandersetzungen isoliert gewesen waren. - Diese Begründung mag z.B. bei der Bergwelt der Kaukasussprachen durchaus zutreffen, reicht jedoch bei der Sprachenvielfalt der Südseesprachen aus einer Reihe von Gründen nicht aus.

Dies sei an zwei Beispielen von Papua-Neuguinea aufgezeigt:

  • Die verbreitetste Sprache dort ist Enga mit etwa 160.000 Sprechern. Also einer für dortige Verhältnisse sehr großen Population. Und doch leben die Engas im zentralen Hochland in einem der zerklüftetsten und entlegensten Gebiete des Landes, ja vielleicht der ganzen Welt.
  • Unten an der Küste - nicht weit entfernt - liegt Sepik, das Gebiet mit der höchsten Sprachenvielfalt. Im dortigen Gebiet ist es allgemein üblich, daß von Dorf zu Dorf - trotz großer Nähe und einfacher sozialer Kontakte - in den Dörfern unterschiedliche Sprachen gesprochen werden.

Beides widerspricht der obigen These, auch wenn diese für andere Gegenden durchaus zutreffen mag. Vielmehr ist es genau umgekehrt (wie bei vielen anderen Beispielen des dortigen Kulturraums auch).

  • Die Gründe für diese extreme Sprachenvielfalt könnten möglicherweise in der Mentalität und den Sitten der dortigen Bevölkerung liegen. Viele dieser Völker bewerten auch kleine kulturelle Unterschiede und Eigenarten sehr hoch. Man hebt anscheinend sprachliche Eigenheiten hervor, um die Gruppenidentität zu stärken, was in den Jahrtausenden sicher Unterschiede geschaffen hat. Man benutzt eine andere Sprache als ds Nachbardorf, um sich von diesem anzugrenzen und um den eigenen Zusammenhang zu fördern.

Hierbei handelt es sich um (meist unbewußte) Verhaltensweisen, die auch uns modernen Menschen des beginnenden 3. Jahrtausends nicht fremd sind. Mit dem Streben nach sprachlicher und sonstiger kultureller Autonomie werden selbst heute - sogar in unserem fortschrittlichen Europa - Kriege begründet und Terror gerechtfertigt, nicht nur im Baskenland in Nordspanien (ETA), auf Korsika, in Nordirland und auf dem Balkan, sondern überall auf der Welt.

  • Auch Tabuwörter könnten eine Rolle gespielt haben. Im dortigen Kulturraum gibt es weit mehr Tabuworte und -themen, als wir es uns vorstellen können. Das ganze Denken und Leben ist erfüllt von unzähligen Tabus. Bezeichnenderweise kommt auch der Begriff “Tabu” aus dem Polynesischen.So ist es z.B. angeheirateten Verwandten gewöhnlich verboten, gegenseitig ihre Namen auszusprechen. Ebenso sind häufig die Namen kürzlich Verstorbener tabu.

Da Personennamen dort sehr häufig auch normale Gegenstände bezeichnen, müssen Alternativwörter eingeführt werdne, so daß sich der Rhythmus des Sprachwandels erhöht. Was liegt näher, die vielen Tabuwörter zu vermeiden, als fremdsprachliche Ausdrücke zu verwenden?

Lösungsansatz:

Ein Wissenschaftler hat vorgeschlagen, das Problem aus einem anderen Blickwinkel her anzugehen. Anstatt zu fragen, warum Melanesien so viele Sprachen hat, sollten wir vielleicht fragen, weshalb der Rest der Welt so wenige hat, oder wie manche Sprachen sich über so große Gebiete verbreiten konnten.

Diese Sichtweise ist gar nicht so einfältig, wie sie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Denn zum Entstehen einer dominanten Sprache (die die anderen verdrängt) bedarf es einer Reihe von Bedingungen, wie

  • einer zentralisierten politischen Macht
  • eines geordneten, straffen Gemeinwesens
  • der Standardisierung
  • eines Schriftsystems und
  • einer literarischen Tradition
  • sowie einer Reihe weiterer Voraussetzungen

Die meisten dieser Bedingungen fehlen in Melanesien.

Antworten auf das Sprachenproblem

Aber wie haben sich die Menschen einer derartigen Sprachenvielfalt angepaßt? -  Hierfür gibt es im Grunde 3 Antworten:

Zunächst muß es im dortigen Kulturkreis nicht unbedingt ein großer Nachteil geweisen sein, daß praktisch jedes zweite Dorf eine andere Sprache spricht. Denn die dortigen Dörfer, die fast ausschließlich von Fischern und einigen Bauern bevölkert waren, waren naturgemäß anders strukturiert als z.B. die Gemeinschaften Europas, die unter der Regierungsgewalt eines Herrschers standen und straff organisiert waren.

Die kleinen Inseln kannten - anders als z.B. das immer stark bevölkerte Europa - keine militärischen Auseinandersetzungen mit anderen Ländern (anders als in Europa war rundherum nur Wasser). Es gab keine straffe staatliche Ordnung und Verwaltung, für die eine einheitliche Sprache benötigt wurde. Es waren keine Armeen aufzustellen, für deren Funktionieren eine einheitliche Sprache erforderlich gewesen wäre. Vielmehr lebten die Dörfer dieser Inselwelt bis in unsere Zeit überwiegend in einer kleinen überschaubaren Gemeinschaft, deren Sprache sie verstanden.

Die Sprache des übernächsten Nachbardorfes mußten sie hingegen nicht unbedingt verstehen.

Und soweit dies ausnahmsweise doch erforderlich war (z.B. beim Anwachsen der Dörfer zu kleinen und dann größeren Städten), entwickelte sich im Laufe der Zeit eine zunehmende Mehrsprachigkeit.

Der Weg zur Bewältigung der Kommunikationsprobleme war somit die traditionelle Mehrsprachigkeit. Noch heute ist es in Melanesien nicht ungewöhnlich, daß Menschen grundlegende Kenntnisse in vier, fünf oder noch mehr Sprachen haben.

Da einige Sprachgruppen nur wenige hundert Sprecher haben, ist es fast unmöglich, einen Ehepartner innerhalb der eigenen Sprachgruppe zu finden. Daher haben die meisten Kinder Eltern aus verschiedenen Sprachgruppen. Sie wachsen deshalb bereits mehrsprachig auf und lernen beim Heranwachsen noch weitere Sprachen von Verwandten aus anderen Sprachgruppen.

Soweit es um Sprachen außerhalb der engeren Umgebung ging (die man aufgrund der traditionellen Mehrsprachigkeit ja meist ohnehin sprach), also z.B. bei Handelsbeziehungen zu weiter entfernteren Orten, entwickelten sich vereinfachte Handelssprachen, wie sie auch andernorts bei Handelsbeziehungen üblich waren.